Die Hintergründe zum Buch über Aromantik und Asexualität – ein Interview anlässlich der zweiten Auflage

Vor knapp einem Jahr hatte ich eine Rezension über das Buch „(Un)sichtbar gemacht – Perspektiven auf Aromantik und Asexualität“ geschrieben. In diesem Jahr geht es nun um eine zweite Auflage des Buches. Zu diesem Anlass habe ich nun mit Katha und Anni, die das Buch geschrieben haben, ein Interview geführt.

In dem Buch geht es, wie der Titel schon sagt, um verschiedene Perspektiven auf Aromantik und Asexualität. Grundlagen werden aufgearbeitet, historische Kontexte werden dargestellt, andere queere Label werden erklärt und einige aro und ace Personen kommen zu Wort. Die Inhalte bringen einen zum Nachdenken und sind großartig, wenn man nochmal die eigenen Label hinterfragen oder Hintergründe zu Aromantik und Asexualität besser verstehen möchte.

Im Interview haben wir über Aromantik und Asexualität, über Hintergründe zum Buch und über das Dasein als Schreibende gesprochen.


Jo: Euer Buch hatte gerade einjähriges Jubiläum und wie ich hörte könnte es eine zweite Auflage geben. Wie fühlt sich das für euch an?
Katha
: Um ehrlich zu sein: ziemlich irreal! Aber auch sehr toll. Mein Anliegen war es, zusammen mit Anni ein Buch zu produzieren, das Menschen nicht enttäuscht, das sie vielleicht sogar so hilfreich finden, dass sie es weiterempfehlen. Ich hoffe, dass die zweite Auflage ein Hinweis darauf ist, dass wir eine Ressource geschaffen haben, die von den aro und ace Communities als hilfreich, informierend und vielleicht auch empowernd wahrgenommen wird und die auch allo Personen erreicht. Außerdem hoffe ich, dass die Notwendigkeit einer zweiten Auflage ein Zeichen dafür ist, dass zumindest in Teilen der Gesellschaft ein Bedürfnis danach besteht, mehr über Aromantik und Asexualität zu lernen.

Anni: Es fühlt sich ziemlich surreal an, wenn ich lang genug darüber nachdenke. Ansonsten überraschend unspektakulär – aber zeitgleich auch total seltsam und toll? Es ist schwer zu beschreiben, aber ich bin eh nicht sonderlich gut darin, meine Gefühle zu benennen. Weil wir für die zweite Auflage das Buch nochmal überarbeiten wollten, habe ich es neulich selbst nochmal gelesen, das war wild. Ich habe so viel gelernt! Das war auch total schön.

Jo: Ihr seid in einem Twitter-Thread darauf eingegangen, wie es zu dem Buch kam. Unter anderem nennt ihr den Frust, dass keine vergleichbaren Bücher auf Deutsch zum Thema existierten. Sind euch bei der Recherche noch andere Themen aufgefallen, bei denen es ähnlich ist? Zu welchen verwandten Themen bräuchte es nach eurer Meinung noch mehr Recherchen und noch mehr Literatur?

Anni: Ich stelle immer mal wieder fest, dass es große Gemeinsamkeiten im Umgang zwischen Aromantik, Asexualität und Nichtbinarität gibt. Das liegt jetzt vielleicht an mir, aber da ging mein erster Gedanke hin. Mir fallen zwar mittlerweile eine Handvoll Bücher oder andere Sachtexte zum Thema Nichtbinarität ein, aber insgesamt zu wenige. Und während es zu Asexualität mittlerweile, vor allem auf englisch, immer mehr Bücher und andere Texte gibt, hängt Aromantik da noch ziemlich hinterher (wobei das natürlich auch exakt unser Thema ist, aber es bot sich an, das nochmal zu erwähnen).

Katha: Ich bin gierig und würde diese Frage gerne mit „All of the things!“ beantworten. Wenn ich mir ein ganz konkretes Beispiel rauspicke, würde ich die Intersektion von Asexualität, Behinderung und Desexualisierung nennen. Das ist selbstverständlich ein großes Thema mit noch größerer Nuance – ich glaube aber, dass es an dieser Kreuzung ungemein viel Positives, Bestärkendes zu entdecken gibt und die jeweiligen Communities besser daran täten, asexuelle behinderte und/oder neurodivergente Personen zu unterstützen und von ihnen zu lernen.

Jo: Was hat euch beim Schreibprozess am meisten Spaß gemacht?
Anni
: Ich habe mich immer total gefreut, wenn sich durch unsere Recherche für mich etwas auf einmal ergeben hat oder wenn ich für mich ein neues Wort gelernt habe, mit dem ich meine eigenen Erfahrungen beschreiben konnte. Ein Beispiel dafür ist Singlism. Und es hat natürlich Spaß gemacht, wenn wir uns mit schönen Dingen befassen konnten, zum Beispiel als wir von Emma Trosse erfahren haben. Total spannend fand ich für mich persönlich auch die Recherche zur Geschichte der Romantik, zu Polyamorie und zu verschiedenen Anziehungsformen, weil mir das alles nochmal ganz neue Blickwinkel auf mich selbst eröffnet hat.

Katha: Hmm. Für mich ist es zum Einen das viele Lernen durch intensive Recherche, bei der ich so viele Zusammenhänge zum ersten Mal verstanden habe, das nächtelange Durch-historische- Quellen-Gestöber auf der Suche nach Hinweisen auf Asexualität und ihre Konzeptualisierung im letzten und vorletzten Jahrhundert. Zum Anderen auf jeden Fall die enge Zusammenarbeit mit Anni! Wir haben fast täglich telefoniert und den Text wirklich gemeinsam geschrieben – da blieb ein gegenseitiges Rösten für Typos und ungünstige Formulierungen nicht aus. (Mein Favorit: überweltigt statt überwältigt.)

Jo: Was war beim Schreibprozess am schwierigsten für euch?
Katha
: In erster Linie mein Perfektionismus und das Bedürfnis, Sachverhalte so klar und offen wie möglich zu formulieren – für mich hat sich jedes einzelne Wort unglaublich wichtig angefühlt, ich musste für jede Formulierung alle möglichen Konnotationen und Verständnisse durchgehen, bevor ich sie in Ruhe lassen konnte. Das hat den Arbeitsprozess selbstverständlich sehr in die Länge gezogen, gleichzeitig hoffe ich, dass das Endprodukt unsere Bedachtsamkeit und Bewusstsein für Sprache zumindest ein wenig reflektiert.
Anni: Kurze Sätze! Und der gesamte Diskriminierungs-Teil, vor allem das Pathologisierungs- Kapitel, weil wir selbst viele dieser Erfahrungen auch kennen und durchlebt haben und manchmal während des Schreibprozesses durchlebt haben. Das dann so auseinanderzunehmen und möglichst sachlich darzulegen und verständlich zu machen, war nicht immer einfach.

Jo: Ihr wart beim Schreibprozess als Duo aktiv und führt auch eure Social Media Accounts zu zweit. Wie würdet ihr eure Zusammenarbeit beschreiben? Wie schafft ihr es so lange so gut zusammenarbeiten zu können?
Anni
: Das ist eine verdammt gute Frage! Ich glaube, dass sich unsere Arten und Weisen einfach zufällig recht harmonisch ergänzen, da hatten wir echt Glück. Wir waren aber auch von Anfang an sehr professionell miteinander – also, freundlich und auch mal lustig oder persönlich (gerade das Persönliche und Private bleibt bei der Thematik ja irgendwie nicht aus), aber ich glaube, wir hatten auch immer im Hinterkopf, dass wir ein Team sind, und hatten das gemeinsame Ziel vor Augen. Wir haben immer ganz, ganz viel über alles mögliche geredet und sind mittlerweile auch gut befreundet, würde ich sagen, aber unsere Beziehung wirkt auf mich immer noch irgendwie sehr professionell – im besten Sinne des Wortes, also rücksichtsvoll, offen und ehrlich, wir wissen auch, dass wir miteinander sehr kritisch sein dürfen und können, wir achten gegenseitig auf unsere Grenzen. Wir ergänzen uns auch irgendwie sehr gut und wenn eine Person keine Zeit oder Energie oder Ideen hat, hat die andere vielleicht gerade etwas mehr.

Katha: Ich glaube, unsere Zusammenarbeit funktioniert deshalb so gut, weil wir mehr als nur Freunde sind. (Haha, ich warte schon so lange auf eine Gelegenheit für diesen schlimmen Witz D: Ich bitte um Entschuldigung.) Wir haben uns über die Zusammenarbeit kennengelernt und sind dann Freund_innen geworden – wir sind auf vielen verschiedenen Ebenen Partners in Crime. Das hat es einfacher gemacht, auch mal zu kommunizieren, wenn wir nicht so begeistert von einer Idee waren wie die andere Person. (Außerdem ist Anni einfach unglaublich nett und lieb und geduldig und lustig und hilfsbereit und unterstützend und insgesamt toll.)

Jo: Eine rein theoretische Frage: Wie würdet ihr Elternteilen den Begriff „Kink“ erklären? Anni: Hehehehehehe, Katha, willst du? *rüberzwinker* So ganz ohne Vorbereitung hätte ich wirklich keine Ahnung; ich glaube, ich würde auf Beispiele zurückgreifen mit dem Ziel, die Vielseitigkeit von Kink aufzuzeigen.

Katha: Ahhhrgh, ich war dem doch so schön entronnen! Wir werden es wohl in der zweiten Auflage rausfinden 😉

Jo: Die Themen Aromantik und Asexualität haben je nachdem mit wem man spricht ganz unterschiedliche Formen. Was denkt ihr ist ein wichtiger Aspekt dabei damit umzugehen, wenn man mit diesen Themen arbeitet?
Anni
: Ich empfinde es als hilfreich, wenn am Anfang klar gemacht wird, mit welchem oder welchen Verständnissen eins arbeitet. Ich glaube, das habe ich total aus dem Studium übernommen: erstmal Begriffe definieren, zumindest als Arbeitsdefinition, danach kann’s weitergehen. Aber es ist halt auch ein Unterschied, ob ich zum Beispiel sage: „Für mich bedeutet aroace-Sein, dass ich keinerlei romantische oder sexuelle Anziehung empfinde und dass ich mit Romantik als Konzept überhaupt nichts anfangen kann“ oder ob ich behaupte, dass das die geläufige Definition davon sei und alle anderen Verständnisse einfach ignoriere oder ausblende. Die Vielfältigkeit von Aromantik und Asexualität mitzudenken (und sich nicht nur darauf berufen, dass eins am Anfang mal darauf verwiesen hat, dass das ein Spektrum ist, aber nicht weiter darauf eingeht, was das bedeutet) ist glaube ich ein ganz furchtbar wichtiger Aspekt.

Katha: Ich denke, es ist wichtig, darüber zu kommunizieren, welche Verständnisse es von diesen Orientierungen gibt und dass es keine ‚falsche‘ Art gibt, aromantisch und/oder asexuell zu sein. Wenn es um Aufklärungsarbeit geht, legen wir beiden sehr viel Wert darauf, nicht nur unsere Perspektive und unser Erleben vorzustellen, sondern viel eher zu vermitteln, dass es unendlich viele verschiedene Wege gibt, aromantisch / asexuell zu sein, dies zu definieren und zu fühlen und dass dies auch gut so ist!


An dieser Stelle möchte ich mich nochmal bei den beiden für das großartige Interview bedanken!

Buchcover Annika Baumgart, Katharina Kroschel, (Un)sichtbar gemacht), Perspektiven auf Aromantik und Asexualität, Edition Assemblage. Das Cover hat einen grün, grün/grau, lila, weiß, lila, grün/grau, weiß, grünen Hintergrund, in dem die Farben ineinander verschwimmen. Die Farbwechsel passieren von oben links nach unten rechts.
Buchcover „(Un)sichtbar gemacht – Perspektiven auf Aromantik und Asexualität“

Solltet ihr Interesse an dem Buch bekommen haben, geht es hier zur Verlagsseite des Buches. Es ist auch möglich, Katha und Anni über Social Media zu folgen:

@ace_arovolution (Twitter)

@ace_arovolution (Instagram)

Oder per E-Mail zu kontaktieren: ace_arovolution@web.de

Mehr Links und Infos gibt’s auch noch auf folgender Website von den beiden: https://acearovolution.webnode.page/kontakt/


Autoreferentialität, das Werk „Das Lächeln der Frauen“ und Fernando Pessoa

Buch mit Seiten gelegt wie ein Herz und mit einer Rose
Bild von Jess Bailey auf Pixabay

Das Werk „Das Lächeln der Frauen“

Ein Buch, dessen Cover einen Bezug zu Paris hat und von dem ein rotes Detail einem ins Auge fällt – so war ich damals auf die Bücher aufmerksam geworden, die unter dem Namen Nicolas Barreau veröffentlicht wurden. Auf den ersten Blick geht es bei „Das Lächeln der Frauen“ um eine Liebesgeschichte, die in Paris spielt. Mir würde wahrscheinlich kein klischeebehafteteres Setting für eine Liebesgeschichte einfallen.  

Beim Lesen hatte ich Glück. Das Thema war tatsächlich interessant für mich. Wenn man auf den Buchrücken sieht, ist dort beschrieben, dass das Buch davon handele, wie die Protagonistin in einen Buchladen geht und dort einen Roman findet, der sie so fesselt, dass sie den Autoren unbedingt kennenlernen möchte. 

Autoreferentialität – sich auf sich selbst beziehen

Hier fängt direkt ein Phänomen an, das in der Literatur gar nicht mal so selten zu beobachten ist. Schreibenden wird oft der Rat gegeben, über Dinge zu schreiben, die die Schreibenden bereits sehr gut aus ihrem Leben kennen. Und was kennen Schreibende besonders gut? Bücher! Bücher, Geschichten, Buchhandlungen, das sind meistens die Dinge, in deren Nähe Autor*innen häufig aufzufinden sind. Es wundert also nicht, wenn Schreibende über Bücher schreiben. Wenn sich Texte auf Texte oder den Entstehungsprozess von Texten beziehen, wird dies Autoreferentialität genannt. Das Phänomen heißt so, weil sich Texte damit auf sich selbst beziehen (und „auto“ ein anderes Wort für „selbst“ und „referentiell“ ein anderes Wort für „bezogen“ ist > „die auf sich selbst Bezogenheit“ sozusagen).

Autoreferentialität, Fernando Pessoa und Heteronyme

Fernando Pessoa hat zu dem Thema ein interessantes Gedicht geschrieben. Es heißt „Autopsicografia“ (http://arquivopessoa.net/textos/4234). Darin geht es um den Schreibprozess eines Textes und wie Schreibende „faken“. Dort befindet sich „auto“ sogar direkt im Titel. Dies ist aber nicht die einzige Parallele, die sich zwischen dem Werk „das Lächeln der Frauen“ und Fernando Pessoa ziehen lässt. Der Portugiese Fernando Pessoa ist berühmt dafür, dass er unter verschiedenen Namen geschrieben hat. Hierbei handelt es sich aber nicht um einfache Pseudonyme. Er hat sich für einen Teil der Namen, unter denen er geschrieben hat, eigene Persönlichkeiten mit eigenen Biographien überlegt. Diese Identitäten werden Heteronyme genannt. Für eine handvoll Namen gibt es einen kompletten Hintergrund als Heteronym, viele andere Namen wurden als Pseudonyme verwendet. 

Und ab ins Rabbit Hole der Recherche…

Gucken wir nun in das Werk „Das Lächeln der Frauen“, wir sind noch auf einer der Seiten, die vor dem Romanbeginn kommen. Auf einer der ersten Seiten steht „Nicolas Barreau/ Das Lächeln der Frauen/ Roman/ Aus dem Französischen von Sophie Scherer“. Dieses Detail soll später noch interessant werden. In der Autorenbiographie steht, dass Nicolas Barreau Romanistik studiert habe und in Paris in einer Buchhandlung arbeite. Ein Autor also, der in einer Buchhandlung arbeite und selbst Bücher schreibe, anscheinend sogar Bücher über Bücher. Dieses Szenario bekommt aber noch ein paar Level dazu. 

Die große Überraschung, auf die der Roman zuläuft, ist, dass der Autor, den die Protagonistin so verzweifelt sucht, gar nicht existiert. Sie wundert sich, dass der Autor so schlecht zu erreichen ist, aber dann kommt raus, dass der Lektor vom Verlag, zu dem sie Kontakt hat, eigentlich der Autor ist, dies aber versteckt halten will. Es geht also um einen Autoren, der sich eine zusätzliche Persönlichkeit ausgedacht hat, um unter diesem Namen zu schreiben. Ein weiteres Level kommt noch dazu. Erinnert ihr euch an den Namen des Autoren des Werkes? Nicolas Barreau? Und die Person, die den Text aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt haben soll, Sophie Scherer? Zufällig habe ich auch eine italienische Version von einem anderen Roman von Nicolas Barreau (auch mit einem Paris-Bild als Cover und mit einer Person in rotem Kleid). Der Titel des Buches ist „Con te fino alla fine del mondo“. In dem Buch steht, dass der Text von Nicolas Barreau geschrieben wurde und die italienische Übersetzung von Monica Pesetti stammt. Interessant ist, dass bei beiden Büchern die älteste Copyright-Angabe vom Thiele Verlag stammt. In dem deutschsprachigen Buch steht kein französischer Originaltitel und im italienischen Buch steht nur ein deutscher Originaltitel („Du findest mich am Ende der Welt“). 

Suchen wir also mal nach einer französischen Version. Die gibt es tatsächlich. Das Buch wurde auf Deutsch verfilmt und zu Film und Buch sind französische Versionen unter dem Titel „Le Sourire des femmes“ zu finden. Interessanterweise steht dort aber zum Teil noch ein zweiter Name bei: Sabine Wyckaert-Fetick. Und siehe da, bei einem der anderen Bücher von Nicolas Barreau, wo derselbe Name daneben steht (es handelt sich um das Buch „Un soir à Paris“) steht dabei, dass Sabine Wyckaert-Fetick den Text aus dem Deutschen übersetzt habe (https://www.parinfo.fr/node/22081). Auf Amazon stehen auch beide Namen bei den französischen Büchern von Nicolas Barreau dabei. In der Autorenbiographie steht dort, dass es sich bei dem Namen um ein Pseudonym handele. 

Langsam wird klar, worauf ich hinaus möchte, oder? Auf Amazon stehen auch beide Namen bei den französischen Büchern von Nicolas Barreau dabei. In der Autorenbiographie steht dort, dass es sich bei dem Namen um ein Pseudonym handele. In einem Artikel von Elmar Krekeler in der „Welt“ wird nahegelegt, dass es sich bei dem Autoren um eine ausgedachte Persönlichkeit handele und eigentlich die Lektorin Daniela Thiele das Werk auf Deutsch geschrieben habe und auch der Name Sophie Scherer nur herhalten musste, um zu verschleiern, dass das Werk nicht wirklich im Original aus dem Französischen stamme (https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article108619680/Warum-immer-mehr-Verlage-ihre-Autoren-erfinden.html).

Dazu gibt es im Magazin „BuchMarkt“ ein interessantes Interview aus 2016 mit Daniela Thiele. Sie wird nach ihrem schönsten Erfolg des Jahres gefragt. Sie antwortet, dass sie sich über die Inszenierungen von „Das Lächeln der Frauen“ auf den Bühnen in München und Wien, auch die Standorte des Thiele Verlags, gefreut hat. Danach wird sie nach der schönsten Buchhandlung gefragt. Daraufhin berichtet sie von der Livraria Bertrand in Lissabon und, dass sie dort „natürlich ein Buch von Fernando Pessoa gekauft“ habe. Guckt an. Hatten wir den nicht gerade noch besprochen? Sie selbst spricht sogar an, dass er berühmt für seine vielen Pseudonyme ist. In einer späteren Frage wird sie gefragt, welche Frage sie gerne gefragt worden wäre. Ihre Antwort: „Wer ist Nicolas Barreau?“. Und zuletzt beantwortet sie die Frage selbst mit „Keine Ahnung.“ Hier ist der Link zum gesamten Interview mit Daniela Thiele: https://buchmarkt.de/menschen/der-andere-fragebogen/wie-war-ihr-jahr-daniela-thiele/.

Das Buch, in dem es um ein Buch mit einem Lektoren, der sich einen Autoren ausgedacht hat, stammt also tatsächlich von einer Lektorin, die sich einen Autoren ausgedacht hat? Und diese Lektorin berichtet von Fernando Pessoa, der berühmt für seine Heteronyme ist und auch von Autoreferentialität fasziniert gewesen zu sein scheint und sogar ein Gedicht über das Faken beim Schreibprozess geschrieben hat. 


Sexualität, Emotionen und lesbische Sichtbarkeit in „Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ von 永田カビ (Nagata Kabi)

Rezension zum Manga – übersetzt aus dem Japanischen ins Deutsche von Nadja Stutterheim

In dem Manga „Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ von 永田カビ (Nagata Kabi) geht es um eine Hauptfigur, die ihr Studium abgebrochen hat, Depressionen und eine Essstörung hat und versucht einen Weg fürs Leben zu finden, mit dem die Hauptfigur, im deutschsprachigen Text einmal als XX Nagata benannt, glücklich sein kann. Zu Beginn der Geschichte hat die Figur noch keine sexuellen Erfahrungen mit anderen Personen. Dies ändert sich als XX Nagata sich dafür entscheidet, zu einer Prostituierten zu gehen. Wie der Titel des Mangas „meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ schon vermuten lässt, steht bei der Geschichte die lesbische Erfahrung im Fokus.

In dieser Rezension werde ich auf den Plot der Geschichte eingehen. Was die Geschichte aber ganz besonders macht, sind die Gefühle und Emotionen, die darin rübergebracht werden. D.h., auch wenn ich über die wichtigsten Handlungen in der Geschichte schreibe, der Kern der Geschichte im Buch selbst zu entdecken bleibt, nämlich die Gefühle und Emotionen. Genauso faszinierend sind die kleinen Schritte, die dafür sorgen, dass die einen Dinge zu den anderen führen.

Content Notes: Nennung von Depressionen, Essstörungen, Einstellung zu Körper, Selbstverletzung

Wer Interesse daran hat, diesen Manga zu lesen, sollte sich klar sein, dass sehr viele Emotionen und Gedanken, die mit den Depressionen, Essstörungen, der Einstellung der Hauptfigur mit ihrem Körper und weiteren Problemen wiedergegeben werden. Auch Selbstverletzung wird thematisiert. Ich halte es für wichtig, dass diese Themen angesprochen werden und dass diesen Lebenserfahrungen Raum gegeben wird, also, dass sich diese Geschichten angehört werden. Gleichzeitig kann es aber auch weiter triggern, weshalb ich es an dieser Stelle einmal angesprochen haben wollte.

Zur Einführung in die Geschichte

Die Hauptfigur leidet, hat Probleme mit Jobs, mit anderen Menschen und mit ihrer Psyche. Eines Tages liest XX Nagata, dass psychische Probleme auch mit der Sexualität zusammenhängen könnten. Der Figur fällt auf, dass sie sich Gedanken über Sexualität nie erlaubt hat. Dies bringt die Gedanken ins Rollen. Ein Schritt führt zum anderen und es endet damit, dass die Figur einen Termin mit einer Prostituierten abmacht.

Es geht in diesem Manga darum, wie sich die Hauptfigur bei ihren Erfahrungen fühlt. Es geht nicht darum, eine erotische Fantasie zu verkaufen, sondern die Umstände hinter der Fantasie anzusprechen und zu zeigen, wie sexuelle Begegnungen ablaufen können. Es geht um das erste Mal der Hauptfigur und wird sehr detailliert beschrieben bzw. mit den Zeichnungen gezeigt. Und es wird gezeigt, wie messy das erste Mal sein kann.

Über Gefühle und Emotionen in einer Geschichte sprechen

Ich mag den Erzählstil. Der Fokus liegt auf Gefühlen, nicht auf der Action oder reiner Erregung. Es geht auch um Zweifel, Hemmungen, Einsamkeit. Wenn man sich so von anderen Personen distanziert, dass Kommunikation quasi nicht stattfindet, ist es auch schwierig Sexualität auszutesten. Bücher, online Texte und Twitter helfen der Hauptfigur, trotzdem ihren Weg zu finden. Die Problematik, dass strukturelle Aufklärung zu Themen der Sexualität fehlt, wird auch angesprochen. Wie kann lesbische Sexualität aussehen? Wie sieht Selbstbefriedigung aus? Und wie unterscheidet sich Sexualität in der realen Welt im Vergleich zur Fiktion aus? Diese Fragen werden gestellt und sie sind hochaktuell für viele Menschen.

Kommunikation in der Einsamkeit

Die Hauptfigur hat sich im Laufe der Geschichte dazu entschieden, ihre Geschichte in Form eines Mangas niederzuzeichnen und zu veröffentlichen. Dies scheint mir ein schöner Weg zu sein, die eigene Geschichte loszuwerden und wieder neue Verbindungen in die Außenwelt zu schaffen. Das Buch wurde zuerst 2016 in Japan veröffentlicht. Jetzt mit den Maßnahmen wie Social Distancing ist es wahrscheinlich, dass noch viel mehr Menschen ähnliche Gefühle haben wie die Hauptfigur. Vielen fällt es schwer, mit anderen zu connecten. Aber das Buch zeigt auch, dass es auch da Wege gibt. Wir können über das Internet mit einer Menge Personen kommunizieren, auch wenn wir uns in der offline Welt nicht trauen oder nicht mit Nähe wohlfühlen. Aber dass die Geschichte nicht in einem Pandemiesetting spielt, zeigt eben auch, dass es auch ohne Social Distancing schon Personen gibt, die Schwierigkeiten mit dem Connecten mit anderen Personen haben. Es hilft dabei, darüber nachzudenken, wie unterschiedlich Menschen durch ihr Leben laufen. Aber auch welche Rolle die Repräsentation von unterschiedlichen Lebensweisen in den Medien spielt.

Repräsentation

Diese Geschichte schafft Repräsentation in den Medien. Sie schafft Aufmerksamkeit für Einsamkeit, psychische Probleme, Hemmungen, Unsicherheiten mit Menschen und Sexualität. Das Buch normalisiert auch lesbische Sexualität und Prostitution.

Zur Prostitution: Durch den Erzählstil wird die Prostitution nur aus Sicht der Hauptfigur gezeigt. Was diese mitbekommen hat, ist das, was den Lesenden gezeigt wird. Der Fokus ist hier nicht, zu zeigen, wie die Prostitution funktioniert, sondern darauf, wie die Hauptfigur mit ihrer Sexualität umgeht.

Über den Verlag und die deutsche Übersetzung

CN misgendern

Ein Blick ins Carlsen Manga Angebot zeigt, dass Queerness (u.a. die Kategorie „Boys Love“) im Manga-Teil des Verlagsprogramms eine Rolle zu spielen scheint. Bei der Gestaltung der deutschen Version des Mangas „Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ wurde darauf geachtet, das ursprüngliche Design von Mangas mit dem Buchrücken auf der rechten Seite und Sprechblasen, die von rechts nach links gelesen werden, beizubehalten. An ein paar Stellen wurden Begriffe extra erklärt, damit auch ein deutschsprachiges Publikum ohne viele Vorkenntnisse zur japanischen Gesellschaft und Kultur der Geschichte folgen können. Was nicht klar wird, ist, weshalb die Hauptfigur im Text über sich selbst sagt, dass sie nicht als Frau angesehen werden möchte, aber dann im Buchrücken in der „sie“ Form und mit dem Begriff „Frau“ über XX Nagata geschrieben wird. Ich habe in diesem Text daher darauf geachtet nur „sie“ zu schreiben, wenn es sich auf „die Figur“ bezieht und ansonsten Pronomen wegzulassen und XX Nagata als selbstgewähltes Pseudonym der Hauptfigur als Namen zu verwenden. Die deutschsprachigen und englischsprachigen Medien scheinen sich einig dabei zu sein, sie/ihr bzw. she/her Pronomen und die Bezeichnung „Frau“ zu verwenden. Japanischsprachige Quellen scheinen hier aber andere Formen nahezulegen.

Wer Japanisch versteht sei daher herzlich dazu eingeladen, den Text im Original zu lesen und mit den Übersetzungen und den Medientexten über den Text in deutsch- und englischsprachigen Räumen zu vergleichen.

In diesem Atemzug sollte auch erwähnt werden, dass bei der deutschsprachigen Version des Mangas die Reihenfolge der Namen von 永田カビ (Nagata Kabi) gewechselt wurde. Dies wird mit japanischen Namen im Deutschen häufig gemacht, da die Reihenfolge von Familienname und Rufname im Japanischen umgekehrt zu der Reihenfolge im Deutschen ist. Ich habe mich für diesen Text dafür entschieden, die Reihenfolge der Namen aus dem Original zu verwenden. Asiatische Namen werden viel zu häufig für weiße europäische Räume verändert.

Empfehlung

Ich würde jeder Person, die mit den Content Notes klarkommt, empfehlen, den Manga zu lesen. Besonders empfehlen kann ich den Manga den Personen, die eine Verbindung zu Lesbianism haben oder sich über das Thema interessieren.

Was ich sehr süß fand, ist, dass die Hauptfigur davon erzählt hat, Twitter viel zu benutzen. Der Manga gilt übrigens als biografisches Werk (Aussage z.B. vom Buchrücken). Dies scheint auch durch die Wahl des Pseudonyms für die Hauptfigur, das dem Pseudonym von 永田カビ (Nagata Kabi) ähnelt, durch 永田カビ (Nagata Kabi) selbst nahegelegt zu werden.

*** Thank you note ***

An dieser Stelle möchte ich Aisha für die Informationen über das japanische Pronomensystem und die Recherche zu dem Manga im Japanischen danken. – I want to thank Aisha for their help to get a grasp of the Japanese pronouns and their use around this manga for this review.

Linksammlung:

Link zur deutschsprachigen Ausgabe beim Carlsen Verlag: https://www.carlsen.de/hardcover/meine-lesbische-erfahrung-mit-einsamkeit/978-3-551-76277-1

Japanischsprachiger Twitter-Account von 永田カビ (Nagata Kabi): @gogatsubyyyo https://twitter.com/gogatsubyyyo


Japanischer Titel des Mangas: 『さびしすぎてレズ風俗に行きましたレポ』(Quelle: Twitter-Account @gogatsubyyyo) (Als Beispiel verlinke ich hier die japanische Amazon-Seite zum Manga.)

Zur englischsprachigen Ausgabe „My Lesbian Experience with Loneliness“: https://sevenseasentertainment.com/2016/10/28/seven-seas-entertainment-proudly-announces-my-lesbian-experience-with-loneliness-manga/

Vorwort zum Lese-Update #Leseerfahrungen

  • CN Vereinzelte Nennung von Rassismus , weiteren -ismen , Gatekeeping und indirekte Nennung von strukturellem Ableismus

Hallo!

Ich habe mir etwas Neues überlegt, aber lasst mich kurz ausschweifen.

Buchblogger*innen und Autor*innen arbeiten hart und lang, bis die Texte, die sie präsentieren so aussehen, wie sie am Ende aussehen. Sie müssen viel recherchieren, Leute ausfragen, immer wieder Notizen machen und daraus zusammenhängende Texte basteln, weiter recherchieren, Leute finden, die Lektorat oder Sensitivity Reading oder Korrektur oder Übersetzung oder Testlesung oder alles davon übernehmen. Denn kommen noch Bilder, Cover, Zeichnungen, Textlayout, Website-Hosting, Social Media Aktivität und Bilder und Texte dort dazu. Vielleicht sucht eins dann noch nach Kontakten zu Literaturagenturen, Verlagen, anderen Buchblogger*innen oder Autor*innen…

Alles sehr viel.

Aber schreiben soll doch in erster Linie Spaß machen, oder? Über schöne Dinge berichten, die gelesen wurden und eigene kreative Welten zeigen. Auch mal darüber reden, dass etwas gelesen wurde, was so gar nicht ging und überhaupt.

Verschiedene Wege zu lesen

Muss jetzt jede Person erstmal ein ganzes Buch von 500 Seiten gelesen haben, um über die Leseerfahrung zu berichten? Auch wenn ein 500-seitiges Buch für so manche Person wie ein Jahresabenteuer erscheint, was denn doch nie geschafft wird? Ich denke nicht. Ich kenne Leute, die ihre Leseerfahrungen quasi livetweeten. D.h., dass sie während des Lesevorgangs immer mal berichten an welcher Stelle sie jetzt sind und was sie aufregt oder wholesome finden. Konzentration und Löffel, um viel am Stück lesen zu können, sind bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich verteilt. Einigen Menschen hilft es, immer wieder zu unterbrechen und durch Gespräche zu verarbeiten, was gerade gelesen wurde. Ich finde dieses Vorgehen großartig!

Ich möchte gerne darüber reden, wie wir verschiedenen Wegen des Lesens auch Sichtbarkeit schenken können. Es gibt Lesegruppen, Leute, die ihre Leseerfahrung livetweeten, Hörbücher und -spiele, Lesungen, in denen Autor*innen selbst über ihre Texte reden und ein Stück vorlesen. Es gibt viel mehr Wege, mit Texten umzugehen, als nur durch das Zeile für Zeile, Seite für Seite durchlesen eines Buches, bei dem eins am Ende eh nie ankommen wird. Ich weiß, das ist plakativ. Es gibt einige Menschen, die Bücher auf diese Weise tatsächlich durchlesen – aber selbst die eben doch nicht alle Bücher, die sie gerne durchgelesen hätten, oder? – Ja, auch wieder plakativ. Ich saß schon vor Studierenden die mit großen Augen vor wissenschaftlichen Fachbüchern saßen und gefragt haben, wie sie die jemals durchlesen sollen.

Kann es vielleicht sein, dass Menschen unterschiedlich funktionieren und daher auch unterschiedliche Wege brauchen, um Texte zu lesen?

Ich würde gerne normalisieren, dass nicht jedes Buch bis zum Schluss gelesen sein muss bevor eins darüber reden kann. Die Diskussion mit Freund*innen nach Kapitel 1 kann doch genauso dafür sorgen, dass eins plötzlich motivierter ist, auch noch Kapitel 2 und 3 zu lesen. Vielleicht fängt Nachbarin Ana nach einem Gespräch über Kapitel 2 auch noch mit dem Buch an und denn kann gemeinsam über Kapitel 3 diskutiert werden und sich für die Mitte von Kapitel 4 zum Kaffee getroffen werden.

Als Teenager kurz vorm Schulabschluss haben wir uns bei einem Ausflug mit mehreren Übernachtungen abends zu viert in einem Zimmer getroffen und eine Person hat aus einem Buch vorgelesen, die anderen haben zugehört. Manchmal ging das Buch auch reihum. Nie hätte ich sonst mitbekommen, was die Geschichte in dem Buch gewesen wäre. Am Tag haben wir uns auch manchmal über die Geschichte unterhalten und am Abend ging es mit dem Vorlesen weiter. Die Inhalte von Texten können auf so viele verschiedene Wege zum Leben erweckt werden! Fanfiction-Stories können zu Texten geschrieben werden, durch die die Inhalte verarbeitet werden und die eigene Kreativität dafür sorgt, dass auch andere Identitäten in die Geschichte Einzug nehmen oder ein unbeliebtes Ende einen netten Ersatz bekommt.

Von berühmten Leuten und in Selbst-Optimierungskursen wird häufig davon geredet „Sie sollten xy Bücher im Monat lesen“ mit xy als eine konkrete Zahl. Klingt das danach, sich mit den Denkweisen anderer Menschen intensiv auseinanderzusetzen, oder klingt es eher danach, das Brutto-Inlandsprodukt mithilfe von Zahlen zu erhöhen? Dieser Vergleich ergibt übrigens am meisten Sinn, wenn man keine Ahnung von Wirtschaft hat. Ich möchte damit ein Gefühl beschreiben und keine wirtschaftlichen Vorgänge. Mit dieser Erklärung möchte ich auch vorbeugen, dass ich demnächst zwanzig Nachrichten bekomme, in denen mir erklärt wird, was das Brutto-Inlandsprodukt ist und dass mein Vergleich nicht klappt. Mir geht es darum, dass es einige Momente im Leben gibt, die sich nicht in Zahlen messen lassen können.

So, wir haben jetzt also darüber geredet, dass es diverse Wege gibt, Texte zu lesen, richtig? Gut. Nehmen wir einen roten Faden auf, den ich weiter oben zur Seite gelegt habe.

Über Leseerfahrungen beim Bloggen über Texte schreiben

Ich halte es für sinnvoll, sich auch während des Leseprozesses über Texte auszutauschen. Für mich geht es beim Lesen um eine Erfahrung, die gemacht wird. Denn lasst uns doch auch beim Bloggen über Erfahrungen austauschen, auch wenn ein Buch vielleicht noch nicht komplett durchgelesen wurde?

Achtung, ich meine damit nicht, dass vollständige Bewertungen für ein Buch anhand dessen erstellt werden sollen, was im ersten Kapitel eines Buches geschrieben wurde. Ich rede hier weder von Rezensionen auf Amazon oder anderen Verkaufsplattformen – die sind dafür da eine komplette Ware zu bewerten und anderen bei der Entscheidung zu helfen, ob sie die Ware kaufen sollen oder nicht. Wenn ich aber nur Kapitel 1 eines Buches kenne, kann ich nichts dazu sagen, ob sich der Rest des Buches auch lohnt.

Mir geht es darum, Leseerfahrungen zu teilen. Damit meine ich, dass zum Beispiel über eine Szene gesprochen werden kann, die besonders bewegend war. Oder über die Wut gesprochen wird, die von einer anderen Szene ausgelöst wurde. Vielleicht bringt ein Abschnitt in einem Sachbuch ja auch einen Gedankenanstoß für einen kleinen Ausflug in die Ausführungen zum Leben von Eichhörnchen im eigenen Garten?

Was ich damit auch nicht sagen möchte, ist, dass Lektor*innen, Sensitivity Reader, Verlage oder Testlesende nicht gebraucht werden. Wenn Texte veröffentlicht werden, tragen die Schreiber*innen auch eine Verantwortung. Blogartikel lassen sich natürlich etwas einfacher überarbeiten als gedruckte Bücher, die direkt mit einer Auflage von ein paar tausend Exemplaren verkauft werden, aber trotzdem muss sorgfältig bedacht werden, was geschrieben wird. Wir schreiben nicht in einem luftleeren Raum. Was wir schreiben hat einen Einfluss auf diejenigen, die unsere Texte lesen. Dieser Einfluss kann positiv sowie negativ sein. Aus meiner Sicht sollte aber der öffentliche Diskurs über Texte oder überhaupt das Erzählen von Geschichten nicht nur von denen geprägt werden, die diesen langen Weg des Lesens und Schreibens wie im ersten Absatz beschrieben, meistern. Sollten nur Texte über Bücher erlaubt sein, die über das gesamte Buch anstelle eines Abschnitts reden, denn wird es einige Stimmen geben, die nie gehört werden, weil sie das Buch einfach nie beendet bekommen haben. Genauso sollten auch Geschichten erzählt werden können, die eben nicht perfekten Anfang, perfektes Ende und perfekten Mittelteil haben, sondern eher ein kurzer Abschnitt sind, weil die schreibende Person sich vielleicht nicht mehr konzentrieren konnte.

Was letztendlich gelesen wird, das entscheiden Leser*innen selbst. Das ist klar. Ich möchte hier nur ein paar Ideen besprechen und darauf aufmerksam machen, was für Möglichkeiten ich sehe.

Über Erfahrungen reden: Vom Lernen von Sprachen und Lesen von Texten

Das meiste, was ich beschrieben habe, wird für die meisten hier nicht neu sein. Hörbücher gibt es nicht erst seit gestern und auch Lesegruppen sind keine Neuerfindung. Dieser Text soll auch kein „die ultimativen neuesten und besten Tipps zum Lesen“ sein. Mir geht es eher um Sichtbarkeit und darum zu besprechen, wie ich zu Texten und dem Lesen stehe. Von Freund*innen kenne ich Blogartikel zum Thema Sprachenlernen, in denen sie beschreiben, welche Sprache sie gerade lernen und welche Methoden sie dafür verwenden, wie ihr aktueller Stand gerade ist und was für Erfahrungen sie durch die Nutzung der Sprache machen konnten. In den Blogartikeln geht es darum, über eine Erfahrung mit einer Sprache zu sprechen und sich gegenseitig dazu zu motivieren am Ball zu bleiben oder den Ball wieder aufzunehmen, sollte er für eine Zeit zur Seite gelegt worden sein. Ich finde diesen Weg sehr schön! Außer natürlich, wenn es darin endet, dass wieder nur das bereits erwähnte Bruttoinlandsprodukt erhöht werden soll und ganz nebenbei Rassismus unreflektiert bedient wird.

Was ich eigentlich sagen möchte: Ich bin fasziniert von dem Gedanken, über Leseerfahrungen zu berichten und sich darüber auszutauschen, und aus dem Lesen eben kein To Do machen, das in Zahlen gemessen wird. Gleichzeitig sollten gewisse Überarbeitungen von Texten geschehen, damit die Chance singt, unreflektierte -ismen wiederzugeben. Sollte es dennoch zu Feedback kommen, das -istische Themen oder Ausdrücke anspricht, sollte dieses Feedback ernstgenommen und der Text überarbeitet werden.

Die Idee für Lese-Updates

Um jetzt zum ersten Satz dieses Texts zurückzukommen, in dem ich sagte, dass ich erstmal ausschweifen werde: Ich möchte in weiteren Blogartikeln über meine Leseerfahrungen berichten. Rezensionen zu Büchern, die quasi Kaufempfehlungen gleichen und ein vollständiges Werk besprechen, gibt es für viele Texte. Diese Art von Text halte ich auch für wichtig und ich werde sie auch weiterhin immer mal wieder benutzen, aber eben nicht nur. Auf die Idee bin ich dadurch gekommen, dass ich diese Woche zwei großartige Bücher begonnen habe zu lesen und bei mindestens einem davon aber gemerkt habe, dass meine Konzentration es nicht mitmachen wird, dass ich es schnell durchgelesen bekomme. Gleichzeitig habe ich im Moment aber auch keine Möglichkeit, Hörbücher zu diesen Büchern zu kaufen. Aus anderen Bereichen meines Lebens muss ich schon genügend andere Texte und Bücher im Stillen Kämmerlein ohne viel Kommunikation darüber lesen. Dort gibt es weder Hörfassungen noch viele Leute, die wirklich über die Texte reden wollen würden, außer sie können das Bruttoinlandsprodukt damit erhöhen – ja, ich hör bald mit dem Spruch auf. Deshalb würde ich gerne meinen Umgang mit diesen Büchern – die, über die ich mit euch hier sprechen möchte, anders gestalten.

Buchblogger*innen und Autor*innen

So, alle Fäden wurden wieder aufgegriffen und zu einem Ende zusammengeknotet. Jetzt fehlt aber noch eins. Es wird aufgefallen sein, dass ich im ersten längeren Absatz die Tätigkeiten von Buchblogger*innen und Autor*innen zusammengeworfen habe. In der Realität sind nicht alle Buchblogger*innen Autor*innen und andersrum. Im restlichen Teil dieses Artikels habe ich mich auf „das Schreiben und Austauschen über das Gelesene“ konzentriert. Das umfasst tendenziell eher das, was Buchblogger*innen machen, als das, was Autor*innen machen, obwohl letztere natürlich auch Texte lesen und darüber reden können. Besonders bei Fanfiction muss der Originaltext natürlich zumindest ein Stück weit gekannt werden und für Sachtexte, aber auch kreative Texte, wird Recherche betrieben. Wie zu sehen ist – die Aktivitäten sind miteinander verwoben. Es gibt aber auch Bereiche, die typisch für Autor*innen sind, die ich jetzt in einem weiteren Abschnitt thematisieren möchte.

Die meisten Autor*innen, die ich kenne, wachsen mit ihren Texten. D.h. sie sind nicht eines Tages aufgewacht und haben den perfekten 500-seitigen Text geschrieben, der direkt über ein großes Verlagshaus veröffentlich wurde und stilistisch einwandfrei und ohne inhaltliche Probleme war. So große Texte an solchen Orten veröffentlicht zu haben ist auch von den wenigsten Autor*innen, die ich persönlich kenne, das Ziel. Wenn wir auch kürzere Texte und Vorversionen bereits für ein Publikum zu lesen geben, könnte es sein, dass wir durch Unterhaltungen über Inhalte viel eher dazu motiviert werden, weiterzumachen oder wichtiges Feedback bekommen, das dazu führt, dass bestimmte Fehler überarbeitet und danach vermeidet werden können. Ich kenne Leser*innen, die keine zwanzigseitige Geschichte am Stück lesen können und ich kenne Schreiber*innen, denen das Schreiben einer zwanzigseitigen Geschichte zu lang wär. Kurzgeschichten und Kürzestgeschichten gibt es auch nicht erst seit gestern und ich liebe es, dass dies so ist. Mir geht es auch darum zu sagen „ein Text muss nicht perfekt sein, bevor er Leuten zum Lesen gegeben werden kann oder über die Geschichte gesprochen werden kann“. Gleichzeitig möchte ich aber auch wieder mit erhobenem Zeigefinger sagen, dass Autor*innen von Texten weiterhin eine Verantwortung tragen, nicht alles unreflektiert zu vervielfältigen und auf sinnvolles Feedback auch zu reagieren.

Ihr seht – ich bin kein Fan von Gatekeeping, habe aber auch im Hinterkopf, dass eine Menge unreflektierter menschenverachtender Mist in die Welt geblasen wird, die lieber nie geschrieben oder gesagt worden wäre. Wobei das auch bei Texten passieren kann, die durch Redaktionen und Lektorate gingen und jahrelang überarbeitet worden sind. Ich denke, dass in dieser Thematik das wichtigste ist, dass Schreiber*innen sich regelmäßig weiterbilden und mit anderen Leuten im Gespräch bleiben, also gerade mit denen, deren Lebensrealitäten damit zu tun haben, worüber es in den eigenen Texten auch gehen soll. Dass ich ein Fan von Sensitivity Readings bin, ist an dieser Stelle wohl kein Geheimnis mehr.

Die Fäden sind jetzt alle dort, wo sie liegen sollten – und das Bruttoinlandsprodukt ist dabei um keinen Millimeter gestiegen.

Eine wichtige Stimme, die gehört werden muss: Jasmina Kuhnke – „Schwarzes Herz“

CN: Trauma Gewalt Rassismus Misogynie Klassismus

Eine wichtige Stimme, die gehört werden muss. In dem Buch „Schwarzes Herz“ geht es um die Folgen von Rassismus und Misogynie. Es geht darum, wie körperliche und psychische Gewalt das Leben der Schwarzen Ich-Erzählerin begleitet. Es geht um ihre Kindheit, ihre Jugend und die die ersten Jahre nach der Geburt der zwei Kinder, die aus einer gewaltvollen Partnerschaft stammen. 

Im Buch wird häufig zwischen den Lebensabschnitten der Erzählerin gesprungen, von Erlebnissen der Kindheit, wo ihr Stiefvater rassistische Sprache verwendet, um über sie zu sprechen, zu Erlebnissen des Erwachsenenlebens, wo sie den späteren Vater der beiden Kinder, die im Buch vorkommen, kennenlernt, dessen Gewalt ihr gegenüber in weiteren Abschnitten geschildert wird. 

In vielen Geschichten machen mich zu viele Zeitsprünge nervös. Ich komm nicht mehr hinterher, was passiert, wo wir uns in der Geschichte befinden, und möchte die Geschehnisse lieber in der chronologischen Reihenfolge hören. Nach meiner Erfahrung, die nicht mit der Geschichte der Erzählerin vergleichbar ist, funktionieren Erinnerungen, besonders die an extrem negative Erfahrungen, wie psychischen Terror und körperliche Gewalt, so nicht. 

Eins bewegt sich selten chronologisch durch die traumatischen Erinnerungen, die traumatischen Bilder kommen und gehen. Den Erinnerungen ist es egal, dass es Zeitsprünge von Jahrzehnten gibt. Ich weiß nicht, was sich die Autorin dabei gedacht hat, den Text so anzuordnen. Was ich weiß, ist aber, dass mich die Anordnung des Textes daran erinnert hat, wie traumatische Bilder bei mir selbst kommen und gehen. Daher finde ich die Anordnung der Szenen sehr passend gewählt. Zeitsprünge sorgen beim Lesen eines neuen Abschnittes bei mir als lesende Person häufiger für Orientierungslosigkeit. Das Erleben von traumatischen Erfahrungen tut dies auch. Trotz allem wurde dieses Stilmittel so bewusst gewählt, dass die Erzählerin mich im Lesefluss nicht abgehängt hat. Ich konnte ihr folgen. 

Es handelt sich bei der Stimme der Erzählerin um eine wichtige Stimme, da sie ausspricht, was wohl viele, die mit Rassismus und Frauenfeindlichkeit konfrontiert werden, denken. Das Buch gibt denen, die nicht laut werden können, eine Stimme. Das Buch gibt denen, die ähnliche Gedanken und Erfahrungen haben das Gefühl, nicht die einzigen zu sein, denen es so geht. Das Buch zeigt auch, dass es nicht die Überlebenden von Gewalt sind, die an dem, was sie erlebt haben, schuld sind, sondern diejenigen, die die Gewalt ausüben. 

Der gesellschaftliche Kontext des Buches spielt auch eine wichtige Rolle. Während Jasmina Kuhnke noch an dem Buch schrieb, musste sie mit ihrer Familie umziehen, weil es Morddrohungen von Rechtsradikalen gegen sie gab und ihre Adresse öffentlich gemacht wurde. Aus Sicherheitsgründen kann die Autorin ihr Buch nicht bei Lesungen auf einer Buchtour promoten. Auch ein unangekündigter Überraschungsauftritt bei der Frankfurter Buchmesse musste von ihr abgesagt werden, weil die Organisator*innen der Buchmesse es nicht einsahen, die Sicherheit von Jasmina Kuhnke und anderen Autor*innen of Color zu gewährleisten und lieber rechtsradikalen Buchverlagen Platz für ihre Stände zu geben, dessen Angehörigen zum Teil auch mit Drohungen gegen die Autorin zusammenhängen. 

Der Inhalt des Buches zeigt, was passiert, wenn eins still bleibt. Der gesellschaftliche Kontext zur Veröffentlichung des Buches zeigt, was passiert, wenn eins sich engagiert, sich äußert und Betroffenen eine Stimme gibt. 

Die Sprache des Buches zeigt, dass sich die Autorin nicht verstellt, nur weil Kritiker*innen eine ganz bestimmte Sprache erwarten, in der fuck nicht vorkäme, rassistische Ausdrücke aber unkommentiert ausgeschrieben werden können. Rassistische Begriffe, die durch Zitate auftauchen, wurden mit Sternen zensiert. In dem Buch wurde entgendert, wenn es um die anonyme Masse von z.B. Mitschüler*innen und Lehrenden ging und es wurde ein Sensitivity Reading durchgeführt, was es bei vielen anderen Publikationen so sonst häufig noch nicht gibt. Es gibt auch Hinweise am Buchanfang und Buchende, die die Lesenden darauf aufmerksam machen sollen, dass der Inhalt retraumatisierend wirken kann und es gibt eine Aufzählung von Themen, die vorkommen, so dass sich Lesende überlegen können, ob sie das Buch tatsächlich lesen wollen, auch wenn z.B. rassistische Sprache und Gewaltdarstellungen vorkommen. Es wird also deutlich, es wurden sich Gedanken gemacht. Es wurden sich Gedanken gemacht, wie verschiedene marginalisierte Gruppen auf den Text reagieren würden und es wurde nicht die Sprache der Mehrheitsgesellschaft und des Patriarchats übernommen. 

Aus meiner Sicht ist dieses Buch eines der wichtigsten Bücher, die ich bisher gelesen habe. Es zeigt, was das Leben in unserer Gesellschaft für diejenigen bereithält, die nicht so privilegiert aufwachsen und regelmäßig mit Rassismus und Misogynie konfrontiert werden. Es zeigt, was an der Oberfläche unserer Gesellschaft beinahe komplett unsichtbar gemacht wird und trotzdem da ist und das Leben vieler Menschen prägt. Das Buch gibt aber auch Hoffnung und für diese Hoffnung möchte ich Jasmina Kuhnke danken.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass diese Rezension von einer weißen Person geschrieben wurde. Bei den Darstellungen der Bezeichnungen weißer und Schwarzer Personen und BIPoCs habe ich mich an den Bezeichnungen orientiert, die Alice Hasters in ihrem Buch „Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ verwendet und erläutert hat. Ich würde allen Lesenden dieser Rezension sehr ans Herz legen, sich noch viel öfter die Stimmen von Schwarzen Frauen und anderen FLINTA* BIPoC anzuhören und den Fokus darauf zu legen, was diese über Rassismus und Misogynie und über Bücher wie „Schwarzes Herz“ zu sagen haben. Ganz zum Schluss denn noch das Fazit: Wenn ihr die Themen, die in den Inhaltshinweisen vorkommen, verkraften könnt, dann lest unbedingt das Buch!


Für diese Rezension hat Jade S. Kye ein Sensitivity Reading in Bezug auf Rassismus-sensibler Sprache durchgeführt. Für das Feedback möchte ich sehr danken!

Das Buch:

Jasmina Kuhnke (2021): Schwarzes Herz. Hamburg: Rowohlt.