Merlin & Arthus

– Wie wir manchmal unterschiedliche Serien sehen, wenn es wirklich dieselbe ist

CN Cisheteronormativität Sexismus Rassismus

Das Thema für diesen Beitrag spricht etwas an, was wohl viele queere Leser*innen und Zuschauer*innen kennen. Wir sehen eine Serie, einen Film oder lesen ein Buch oder bekommen eine Geschichte über irgendeinen anderen Weg mit und haben das Gefühl, dass die Story nur so vor Queerness trieft. Dann gucken wir in Rezensionen oder in die Wikipedia-Zusammenfassung und Queerness wurde nicht in einem Wort erwähnt. Andere, queer oder nicht queer, sprechen vielleicht auch darüber, dass sie davon nichts mitbekommen haben bei der Geschichte. Meine Neurodivergenz sorgt zusätzlich noch dafür, dass ich Geschichten häufig etwas anders verarbeite. Das hat in der Schule und im Studium für mich auch schon dazu geführt, dass mir erzählt wurde, dass meine Interpretationen unlogisch seien oder etwas anderes gemeint wäre. Das ist die Schönheit daran, wenn man einen eigenen Blog hat und sich seine Interpretationen selbst zusammenschreiben kann (auch wenn das Imposter Syndrom gerade bei Interpretationen schon hart kickt). Aber zurück zum Thema: Es gibt viele Faktoren in unserem Leben, die beeinflussen, wie wir eine Geschichte verstehen. In der Literaturwissenschaft gibt es daher auch diverse Ansätze, Geschichten zu interpretieren. Es gibt feministische Lesarten, queere Lesarten, autobiographische Ansätze und vieles mehr.

Die Serie „Merlin – die neuen Abenteuer“

Nun habe ich vor einiger Zeit die Serie „Merlin – die neuen Abenteuer“ auf Netflix gesehen. Die gibt es in mehreren Sprachen, was ich ganz spannend fand. Es kommen viele Schimpfwörter vor, die man im Alltag wahrscheinlich eher selten hört. Gut, um das Schimpfwörter-Repertoire in anderen Sprachen aufzustocken! Die Serie basiert auf der Arthus-Legende. Es geht um den Zauberer Merlin und seinen König Arthus. Lancelot kommt vor, das berühmte Schwert im Stein kommt vor und viele andere Figuren und Szenen, die einem auch mit wenig Erinnerung an die Geschichten um die Arthus-Legende irgendwie bekannt vorkommen.

Ein paar Probleme der Serie

CN Rassismus, Sexismus

Beim Sehen der Serie sind mir einige Dinge aufgefallen. Zuallererst: Frauen und BIPoC scheinen keine oder nur eine geringe Rolle zu spielen und werden vermehrt für Rollen von den „Bösen“ eingesetzt. Gwen, die WoC ist, startet als Dienerin in die Serie. Sie wird häufig schlecht behandelt, bleibt aber dennoch treu und arbeitet sich hoch. Das vermittelt ein Bild, das auch mit dem Ritterzeit-Setting nicht mehr zu erklären ist. Auch an anderen Stellen bekam ich als Zuschauer*in das Gefühl, dass die Serie betonen wollte, dass Änderung nur von Innen und über Zeit möglich ist und dass zu großer Protest gegen den Status-Quo der Sache eher schaden würde. Das ist ein Weltbild, dem ich so nicht zustimmen möchte. Auch der Umgang mit Merlin, der über die längste Zeit der Serie als Diener agiert, ist nicht gut. Dies lässt sich Merlin aber gefallen. Beide, Gwen und Merlin, erklären immer wieder, dass die Dinge eben so seien und es ihre Aufgabe wäre. Aber wer davon abweicht, wird im Zweifelsfall auch von Gwen und Merlin bekämpft…

Eine heteronormative Geschichte im Vordergrund

Nun aber zur (nicht vorhandenen?) Queerness. In der Geschichte werden romantische Beziehungen nur zwischen Männern und Frauen dargestellt. Sexuelle Szenen gibt es (im kompletten Gegensatz zu z.B. Bridgerton) überhaupt nicht. Es wird offen auch nur von romantischer Liebe zwischen Frauen und Männern gesprochen. Die Beziehung zwischen Merlin und Arthus ist formal die zwischen Diener und seinem Herrn. Ab und zu sprechen Merlin und Arthus darüber, dass sie unter anderen Umständen Freunde sein könnten. Dass sie sich dennoch näherstehen als Diener und sein Herr, wird in einigen Szenen deutlich. Auch Arthus‘ Vater und Gwen sprechen mehrfach an, dass die Verbindung zwischen den beiden sehr stark zu sein scheint. Merlin erklärt dies bis zum Ende für „seine Aufgabe“. Manche Rezensionen sprechen an dieser Stelle von „brotherhood“ (Link 1). Es gibt auch eine Mentor-Mentee Beziehung zwischen Merlin und Gaius, dem Hofarzt, bei dem Merlin zu Beginn der Serie einzieht.

Eine queere Geschichte hinter dem Vorhang?

Auf einem zweiten Blick geht es um einen jungen Mann, der ein Geheimnis hat. Er kommt in eine neue Stadt, weil es zuhause auf dem Land Probleme gab, weil sein Geheimnis fast rausgekommen wäre. In der Stadt lebt er gefährlich, weil das Bekannt werden seines Geheimnisses ihm den Tod bringen würde, da darauf die Todesstrafe besteht. Er kommt bei einem Mann unter, der schon um einiges älter ist und den jungen Mann direkt durchschaut. Er erkennt sein Geheimnis sofort. Er war früher auch mal „so“, aber jetzt lebt er es nicht mehr aus. Das ist sicherer für ihn. Er bringt dem jungen Mann alles bei, was er zum Leben in der Stadt und zum Leben mit seinem Geheimnis braucht und gibt ihm Bücher zum Lesen. Eines Tages trifft der junge Mann auf einen anderen in ungefähr seinem Alter. Dieser ist arrogant, eingebildet, hält sich für den stärksten, beliebtesten und bestaussehendsten Kerl in der Gegend. Sie streiten und kämpfen. Weil der junge Mann, der neu in die Stadt kam, dem anderen aber irgendwann das Leben rettete, wird er zum Diener des anderen erklärt (als Belohnung?!), da der andere der Sohn des Königs ist. Der Diener kann dem Prinzen nicht die Wahrheit über sein Geheimnis sagen. Trotz allem beschützt er den Prinzen mit allem was er kann. Auch wenn er dafür nie Lob bekommt, da sonst sein Geheimnis rauskommen würde. Er bringt sich selbst mehrfach in Lebensgefahr für den Prinzen. Manchmal liegt er auch schweißgebadet im Bett und ruft seinen Namen (okay, das ist sehr aus dem Kontext gezogen!). Wenn der Prinz Dates hat, ist sein Diener immer dabei. Ständig sprechen Leute den Diener darauf an, dass er viel mehr tut, als was von ihm als Diener erwartet würde. Selbst seine eigene Mutter, der König, die Dates des Prinzen und alle anderen, die den beiden irgendwann über den Weg laufen. Auch der Prinz strengt sich mit der Zeit mehr an, seinen Diener am Leben und bei sich zu behalten, als es normal für Diener wäre. Auch dies wird vom König und von anderen Figuren immer wieder angesprochen.

Nun könnte das alles damit erklärt werden, dass die beiden ein hohes Pflichtbewusstsein haben. Merlin kennt einige Vorhersagen, die besagen, dass er bei Arthus bleiben muss, damit dieser später als König Veränderungen bringt. Arthus geht auch mit anderen Figuren in seinem Umfeld etwas besser um, als es andere Figuren erwarten würden. Und mit der Zeit wachsen auch Diener und Herr sich gegenseitig ans Herz, wenn sie Abenteuer miteinander erlebt haben. Und mit brotherhood lässt sich bestimmt auch einiges erklären.

Wir haben aber Szenen, in denen Merlin stöhnend und schweißgebadet im Bett liegt (ja, offiziell von einer Vergiftung) und Arthus‘ Namen ruft. Gleichzeitig sammelt Arthus für Merlin Blumen (ja, als Gegenmittel gegen die Vergiftung) und widersetzt sich damit dem König und wird dafür im Nachhinein vom König eingesperrt.

Alles was gezeigt wird, lässt sich mit einigen Sachen erklären. Aber wenn wir mit einer queeren Linse über die Geschichte gucken, merken wir, dass die Geschichte eine Menge queeres Material bietet. Während ich die Serie geguckt habe, habe ich Freunden, die die Serie nicht kannten, immer wieder Updates geschickt, was Neues extrem queeres passiert ist. Dabei habe ich die Szenen mit einer queeren Linse wiedergegeben. Wenn wir Magie als Metapher für Queerness nehmen und die Loyalität von Merlin zu Arthus unter romantischeren Gesichtspunkten sehen, entsteht eine komplette Lage neuer Interpretationen dazu, was in der Serie geschieht. Als ich halb durch die Serie durch war, habe ich mich gefragt, wann die beiden sich endlich die Liebe gestehen. Die Queerness zwischen den Zeilen war für mich so eindeutig, dass ich erwartet hatte, dass diese nicht nur zwischen den Zeilen angesprochen wird, sondern auch in den Zeilen zum Vorschein kommt. Das passierte so aber nie.

Und die Cis-Normativität?

Ich habe jetzt vor allem von Queerness im Sinne von Anzeichen für Romantik zwischen Merlin und Arthus gesprochen (und die interessante Mentoren-Dynamik mit Gaius in einem Zwischenpunkt erwähnt). Es gibt Szenen, in denen sich Merlin in eine Frau verwandelt und Kleider trägt. Es gibt auch eine Szene, in der es heißt, dass alle Männer angegriffen worden seien. Nur Gwen und Merlin sind verschont blieben. Gwen wunderte sich darüber, dass die beiden verschont geblieben waren. Merlin erklärte dies damit, dass nur Männer angegriffen worden waren. Gwen sprach an, dass Merlin aber ja auch verschont geblieben ist. Das winkte Merlin ab, weil er ihr den wahren Grund nicht nennen konnte. In der Geschichte wird dies damit erklärt, dass er wegen der Magie nicht angegriffen werden konnte. Wenn wir Magie aber mit Queerness verbinden, klingt das nach einer Szene, in der thematisiert wird, dass Merlin trans ist?

Viele mögliche Interpretationen

Von außen kann ich niemals einer Person attestieren, ob sie trans, schwul, bi, aromantisch oder genderfluid ist oder ein anderes queeres Label für die Person passt. Ob für eine Person queere Label passen und welches es sind, kann nur die Person sagen, um die es geht. Da wir bei einer Geschichte mit fiktiven Charakteren aber keine Identitäten in der Realität haben und es sich hier um Kunst handelt, die interpretiert werden darf, würde ich dieser Serie eine zweite Lage, die komplett mit Queerness gefüllt ist, attestieren. Da sexuelle Aktionen in der Serie kaum eine Rolle spielt, könnte Asexualität bei einigen Figuren eine Rolle spielen. Dies wird aber mit den üblichen Mitteln unsichtbar gemacht, zumindest, soweit ich das gesehen habe. Da keine offene romantische Anziehung zwischen Merlin und Arthus thematisiert wurde, kann es sich hier auch um einen Squish handeln oder eben wirklich einfach „um zwei sehr gute Freunde“. Dass Merlin nicht wie das Stereotyp Mann agiert, kann ihn auch einfach gender-nonconforming machen. Nicht jede Person, die den Geschlechtsstereotypen nicht entspricht, ist direkt trans.

Was machen wir daraus?

Aber diese Punkte sind eben auch das Ding, weshalb Queerness, die nur zwischen den Zeilen steht, so schwierig ist. Eine Person liest diese Interpretation vielleicht gar nicht raus. Eine andere Person argumentiert damit, dass nicht jede Person, die den Geschlechtsstereotypen nicht entspricht, trans ist. Das heißt, die Queerness, die man aus der Geschichte rauslesen kann, ist sehr instabil. Jeder Punkt lässt sich auch durch etwas anderes erklären. Queere Repräsentation braucht daher auch Geschichten, die nicht nur zwischen den Zeilen Queerness zeigen, sondern auch ganz offensichtlich ohne zweite Ebene und ohne doppelten Boden.

Wenn ich diese Serie sehe, sehe ich eine sehr queere Story. Manche Rezensionen (wie die verlinkte) zeigen mir aber auch, dass es andere Ansichten dazu gibt. Wenn ihr mögt, gebt mal „Merlin queer coding“ in eine Internetsuchmaschine ein… Die Serie existiert schon etwas länger, weshalb schon sehr viel dazu gesagt wurde. Auch die möglichen Wege, Queerness in die Geschichte zu interpretieren wurden an anderen Stellen viel intensiver besprochen. Mein Anliegen war es, diese Serie als Beispiel zu nehmen, um anzusprechen, dass es passieren kann, das zwei Personen dieselbe Geschichte hören können und zwei sehr unterschiedliche Stories davon mitnehmen.

Hier gibts eine Reddit-Diskussion darüber, ob es sich um Queerbaiting handelt: Reddit-Diskussion (Link 2). Es gibt auch Storylines, die lesbische Identitäten nahelegen. Über die lesbische Storyline haben andere schon geschrieben (Link 3). Aus meiner Sicht ist die lesbische Storyline subtiler. Es fällt auf, dass der alten Religion vor allem Frauen anhängen, die alle Magie ausüben. Es wird hier aber von der Queerness nochmal anders abgelenkt. Ein Symptom davon, dass Queerness bei Frauen eher unsichtbar gemacht wird.

Habt ihr die Serie gesehen? Wenn ja, wie habt ihr die Geschichte verstanden? Schreibt mir dazu gerne eine E-Mail an home@josefine-quell.de oder kontaktiert mich über Twitter!

Links:

Link 1: https://fellowshipandfairydust.com/2018/08/03/magic-brotherhood-and-destiny/

Link 2: https://www.reddit.com/r/merlinbbc/comments/owcca7/did_merlin_as_show_queer_bait/

Link 3: https://lesbian-morgana.tumblr.com/

Sexualität, Emotionen und lesbische Sichtbarkeit in „Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ von 永田カビ (Nagata Kabi)

Rezension zum Manga – übersetzt aus dem Japanischen ins Deutsche von Nadja Stutterheim

In dem Manga „Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ von 永田カビ (Nagata Kabi) geht es um eine Hauptfigur, die ihr Studium abgebrochen hat, Depressionen und eine Essstörung hat und versucht einen Weg fürs Leben zu finden, mit dem die Hauptfigur, im deutschsprachigen Text einmal als XX Nagata benannt, glücklich sein kann. Zu Beginn der Geschichte hat die Figur noch keine sexuellen Erfahrungen mit anderen Personen. Dies ändert sich als XX Nagata sich dafür entscheidet, zu einer Prostituierten zu gehen. Wie der Titel des Mangas „meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ schon vermuten lässt, steht bei der Geschichte die lesbische Erfahrung im Fokus.

In dieser Rezension werde ich auf den Plot der Geschichte eingehen. Was die Geschichte aber ganz besonders macht, sind die Gefühle und Emotionen, die darin rübergebracht werden. D.h., auch wenn ich über die wichtigsten Handlungen in der Geschichte schreibe, der Kern der Geschichte im Buch selbst zu entdecken bleibt, nämlich die Gefühle und Emotionen. Genauso faszinierend sind die kleinen Schritte, die dafür sorgen, dass die einen Dinge zu den anderen führen.

Content Notes: Nennung von Depressionen, Essstörungen, Einstellung zu Körper, Selbstverletzung

Wer Interesse daran hat, diesen Manga zu lesen, sollte sich klar sein, dass sehr viele Emotionen und Gedanken, die mit den Depressionen, Essstörungen, der Einstellung der Hauptfigur mit ihrem Körper und weiteren Problemen wiedergegeben werden. Auch Selbstverletzung wird thematisiert. Ich halte es für wichtig, dass diese Themen angesprochen werden und dass diesen Lebenserfahrungen Raum gegeben wird, also, dass sich diese Geschichten angehört werden. Gleichzeitig kann es aber auch weiter triggern, weshalb ich es an dieser Stelle einmal angesprochen haben wollte.

Zur Einführung in die Geschichte

Die Hauptfigur leidet, hat Probleme mit Jobs, mit anderen Menschen und mit ihrer Psyche. Eines Tages liest XX Nagata, dass psychische Probleme auch mit der Sexualität zusammenhängen könnten. Der Figur fällt auf, dass sie sich Gedanken über Sexualität nie erlaubt hat. Dies bringt die Gedanken ins Rollen. Ein Schritt führt zum anderen und es endet damit, dass die Figur einen Termin mit einer Prostituierten abmacht.

Es geht in diesem Manga darum, wie sich die Hauptfigur bei ihren Erfahrungen fühlt. Es geht nicht darum, eine erotische Fantasie zu verkaufen, sondern die Umstände hinter der Fantasie anzusprechen und zu zeigen, wie sexuelle Begegnungen ablaufen können. Es geht um das erste Mal der Hauptfigur und wird sehr detailliert beschrieben bzw. mit den Zeichnungen gezeigt. Und es wird gezeigt, wie messy das erste Mal sein kann.

Über Gefühle und Emotionen in einer Geschichte sprechen

Ich mag den Erzählstil. Der Fokus liegt auf Gefühlen, nicht auf der Action oder reiner Erregung. Es geht auch um Zweifel, Hemmungen, Einsamkeit. Wenn man sich so von anderen Personen distanziert, dass Kommunikation quasi nicht stattfindet, ist es auch schwierig Sexualität auszutesten. Bücher, online Texte und Twitter helfen der Hauptfigur, trotzdem ihren Weg zu finden. Die Problematik, dass strukturelle Aufklärung zu Themen der Sexualität fehlt, wird auch angesprochen. Wie kann lesbische Sexualität aussehen? Wie sieht Selbstbefriedigung aus? Und wie unterscheidet sich Sexualität in der realen Welt im Vergleich zur Fiktion aus? Diese Fragen werden gestellt und sie sind hochaktuell für viele Menschen.

Kommunikation in der Einsamkeit

Die Hauptfigur hat sich im Laufe der Geschichte dazu entschieden, ihre Geschichte in Form eines Mangas niederzuzeichnen und zu veröffentlichen. Dies scheint mir ein schöner Weg zu sein, die eigene Geschichte loszuwerden und wieder neue Verbindungen in die Außenwelt zu schaffen. Das Buch wurde zuerst 2016 in Japan veröffentlicht. Jetzt mit den Maßnahmen wie Social Distancing ist es wahrscheinlich, dass noch viel mehr Menschen ähnliche Gefühle haben wie die Hauptfigur. Vielen fällt es schwer, mit anderen zu connecten. Aber das Buch zeigt auch, dass es auch da Wege gibt. Wir können über das Internet mit einer Menge Personen kommunizieren, auch wenn wir uns in der offline Welt nicht trauen oder nicht mit Nähe wohlfühlen. Aber dass die Geschichte nicht in einem Pandemiesetting spielt, zeigt eben auch, dass es auch ohne Social Distancing schon Personen gibt, die Schwierigkeiten mit dem Connecten mit anderen Personen haben. Es hilft dabei, darüber nachzudenken, wie unterschiedlich Menschen durch ihr Leben laufen. Aber auch welche Rolle die Repräsentation von unterschiedlichen Lebensweisen in den Medien spielt.

Repräsentation

Diese Geschichte schafft Repräsentation in den Medien. Sie schafft Aufmerksamkeit für Einsamkeit, psychische Probleme, Hemmungen, Unsicherheiten mit Menschen und Sexualität. Das Buch normalisiert auch lesbische Sexualität und Prostitution.

Zur Prostitution: Durch den Erzählstil wird die Prostitution nur aus Sicht der Hauptfigur gezeigt. Was diese mitbekommen hat, ist das, was den Lesenden gezeigt wird. Der Fokus ist hier nicht, zu zeigen, wie die Prostitution funktioniert, sondern darauf, wie die Hauptfigur mit ihrer Sexualität umgeht.

Über den Verlag und die deutsche Übersetzung

CN misgendern

Ein Blick ins Carlsen Manga Angebot zeigt, dass Queerness (u.a. die Kategorie „Boys Love“) im Manga-Teil des Verlagsprogramms eine Rolle zu spielen scheint. Bei der Gestaltung der deutschen Version des Mangas „Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ wurde darauf geachtet, das ursprüngliche Design von Mangas mit dem Buchrücken auf der rechten Seite und Sprechblasen, die von rechts nach links gelesen werden, beizubehalten. An ein paar Stellen wurden Begriffe extra erklärt, damit auch ein deutschsprachiges Publikum ohne viele Vorkenntnisse zur japanischen Gesellschaft und Kultur der Geschichte folgen können. Was nicht klar wird, ist, weshalb die Hauptfigur im Text über sich selbst sagt, dass sie nicht als Frau angesehen werden möchte, aber dann im Buchrücken in der „sie“ Form und mit dem Begriff „Frau“ über XX Nagata geschrieben wird. Ich habe in diesem Text daher darauf geachtet nur „sie“ zu schreiben, wenn es sich auf „die Figur“ bezieht und ansonsten Pronomen wegzulassen und XX Nagata als selbstgewähltes Pseudonym der Hauptfigur als Namen zu verwenden. Die deutschsprachigen und englischsprachigen Medien scheinen sich einig dabei zu sein, sie/ihr bzw. she/her Pronomen und die Bezeichnung „Frau“ zu verwenden. Japanischsprachige Quellen scheinen hier aber andere Formen nahezulegen.

Wer Japanisch versteht sei daher herzlich dazu eingeladen, den Text im Original zu lesen und mit den Übersetzungen und den Medientexten über den Text in deutsch- und englischsprachigen Räumen zu vergleichen.

In diesem Atemzug sollte auch erwähnt werden, dass bei der deutschsprachigen Version des Mangas die Reihenfolge der Namen von 永田カビ (Nagata Kabi) gewechselt wurde. Dies wird mit japanischen Namen im Deutschen häufig gemacht, da die Reihenfolge von Familienname und Rufname im Japanischen umgekehrt zu der Reihenfolge im Deutschen ist. Ich habe mich für diesen Text dafür entschieden, die Reihenfolge der Namen aus dem Original zu verwenden. Asiatische Namen werden viel zu häufig für weiße europäische Räume verändert.

Empfehlung

Ich würde jeder Person, die mit den Content Notes klarkommt, empfehlen, den Manga zu lesen. Besonders empfehlen kann ich den Manga den Personen, die eine Verbindung zu Lesbianism haben oder sich über das Thema interessieren.

Was ich sehr süß fand, ist, dass die Hauptfigur davon erzählt hat, Twitter viel zu benutzen. Der Manga gilt übrigens als biografisches Werk (Aussage z.B. vom Buchrücken). Dies scheint auch durch die Wahl des Pseudonyms für die Hauptfigur, das dem Pseudonym von 永田カビ (Nagata Kabi) ähnelt, durch 永田カビ (Nagata Kabi) selbst nahegelegt zu werden.

*** Thank you note ***

An dieser Stelle möchte ich Aisha für die Informationen über das japanische Pronomensystem und die Recherche zu dem Manga im Japanischen danken. – I want to thank Aisha for their help to get a grasp of the Japanese pronouns and their use around this manga for this review.

Linksammlung:

Link zur deutschsprachigen Ausgabe beim Carlsen Verlag: https://www.carlsen.de/hardcover/meine-lesbische-erfahrung-mit-einsamkeit/978-3-551-76277-1

Japanischsprachiger Twitter-Account von 永田カビ (Nagata Kabi): @gogatsubyyyo https://twitter.com/gogatsubyyyo


Japanischer Titel des Mangas: 『さびしすぎてレズ風俗に行きましたレポ』(Quelle: Twitter-Account @gogatsubyyyo) (Als Beispiel verlinke ich hier die japanische Amazon-Seite zum Manga.)

Zur englischsprachigen Ausgabe „My Lesbian Experience with Loneliness“: https://sevenseasentertainment.com/2016/10/28/seven-seas-entertainment-proudly-announces-my-lesbian-experience-with-loneliness-manga/

Aromantische und asexuelle Identitäten greifbar und eben auch sichtbar gemacht

Rezension zum Buch „(un)sichtbar gemacht – Perspektiven auf Aromantik und Asexualität“ von Annika Baumgart und Katharina Kroschel

CN Unsichtbarkeit und Erasure von Aromantik und Asexualität (besonders bei Aromantik), Nennung von Diskriminierung, Pathologisierung, Vorurteilen und Klischees

(Hinweis: Anders als im Buch selbst, werden in dieser Rezension nicht alle Label und Begriffe erklärt. Hierfür würde ich das digitale Queer-Lexikon oder eben das Buch um das es geht, empfehlen. Dort werden alle wichtigen Begriffe sehr gut erklärt.)

Annika Baumgart und Katharina Kroschel schreiben über ihr eigenes Buch, dass es ein Einführungsbuch in die Thematik Aromantik und Asexualität sein soll und, dass es die Lesenden von verschiedenen Positionen abholen soll und diese dann gemeinsam durch die Inhalte des Buches führen soll. Ich muss sagen, dass dies sehr gut gelungen ist! Bevor ich aber darüberschreibe, wie meine Leseerfahrung mit diesem Buch war, möchte ich einmal über meinen Zugang zum Thema sprechen. Seit einiger Zeit weiß ich, dass ich ace bin und habe auch noch weitere queere Identitäten. Von einem Teil der besprochenen Themen bin ich also selbst direkt betroffen. Ich habe das Buch zur Zeit der Aromantic Spectrum Awareness Week gelesen, was ich ganz passend fand, weil ich durch das Buch viel über Aromantik gelernt habe, wozu ich zuvor noch nicht so viel wusste.

Nun aber zum Buch: Das Buch ist so aufgebaut, dass zu Beginn Definitionen zu den wichtigsten Begriffen besprochen werden. Es wird darauf eingegangen, dass die Label weit gefasst sind und auch Microlabel im demi- und gray-Bereich sind, darunterfallen. Es geht also um einen großen Schirm für viele mögliche Microlabel. Es wird auch betont, dass nur eine Person selbst über die Label entscheiden kann, die für einen genutzt werden. Das sorgt eben auch dafür, dass Grenzen zwischen Labeln verschwimmen können und bei unterschiedlichen Personen unterschiedlich aussehen können.

Diese Definitionen sind aus queerer Sicht wichtig, da normative patriarchale Systeme nur aufgebrochen werden können, wenn die Fremdzuweisung von Labeln gestoppt wird und Personen für sich selbst sprechen und entscheiden können. Auch haben mir die Definitionen nochmal die Augen geöffnet. Ich wusste, dass „keinen Sex haben“ und asexuell sein, nichts miteinander zu tun haben muss. Es kann sein, dass eine Person selten Interesse an sexuellen Handlungen hat oder einfach keine sexuelle Anziehung spürt. Dass von einem Spektrum gesprochen wird, zeigt, dass nicht jede Person mit demselben Label gleich fühlt oder handelt. Wenn ich selbst mich zum Beispiel beim Dating als ace oute, merke ich, dass nicht alle wissen, was das Konzept dahinter überhaupt ist. Auch werden im Buch einige Stereotype angesprochen und zerlegt. Damit fühlte ich mich gut abgeholt und hatte das Gefühl, am richtigen Platz zu sein.

Zur Aromantik wurde genauso beschrieben, dass Handlung, Gefühl und Anziehung auch in diesem Bereich nicht zusammenhängen müssen und auch hier Phasenweise Veränderungen möglich sind. Und dies war etwas, was mir die Augen geöffnet hat. Ich weiß nicht, wie viele von euch eine feste Vorstellung davon haben, was beispielsweise Verliebtsein und romantische Liebe bedeuten oder was gemeint ist, wenn Paare in einer romantischen Beziehung sich gegenseitig sagen, dass sie sich lieben. Ich für meinen Teil hatte für diese Konzepte immer Schwierigkeiten diese in Worte zu fassen. Als Teenager habe ich mit Freund*innen darüber diskutiert, was denn letztendlich den Unterschied zwischen Freundschaft und Beziehung ausmacht – Achtung, hier geht es um Beziehungsweisen, die müssen per se nichts damit zu tun haben, ob Personen aromantisch oder asexuell sind oder nicht. Wir haben diese Dinge diskutiert, weil ich Gefühle, die ich bei bestimmten Freund*innen und romantischen Partner*innen nicht voneinander unterscheiden konnte, obwohl klar aufgeteilt war, mit wem ich befreundet und mit wem ich in einer romantischen Beziehung war. Vermutlich hatte ich romantische Gefühle einfach für mehr Personen als ich dachte. Ich denke, dass dieses Beispiel ganz gut zeigt, wie Beziehungsweisen und Gefühle und Anziehung voneinander abweichen können. Auf diese Abweichungen gehen die beiden im Buch auch sehr schön ein! Freundschaften, queerplatonische Beziehungen und romantische Beziehungen werden beispielsweise besprochen.

Im ganzen Buch sind Erzählungen von Personen verteilt, die unter die Schirmbegriffe aromantisch und/oder asexuell passen. Die Erzählungen zeigen, dass das Leben nicht so geradlinig ist, wie Bücher es manchmal scheinen lassen. Es gibt Ehen, in denen nach vielen Jahren erst auffällt, dass eine der beteiligten Personen asexuell ist. Es kommen auch Partnerschaften vor, in denen auf einmal rauskommt, dass beide auf dem aromantischen Spektrum sind.

In dem Buch wird die Geschichte der Konzepte Aromantik und Asexualität und besonders die Rolle des Internets und tumblr Blogs, um nur ein Beispiel zu nennen, weil mich dies immer besonders fasziniert, besprochen. Diskriminierung, Vorurteile, Unsichtbarmachung werden besprochen. Beziehungsarten werden durchgegangen und auch Intersektionalität, also die Verbindungen mit anderen Marginalisierungen wie beispielsweise anderen queeren Identitäten werden auch thematisiert und veraltete Ansätze aus der Wissenschaft werden angesprochen und auseinandergenommen.

Vor ein paar Jahren hatte ich mal „Bi: Notes for a Bisexual Revolution“ von Shiri Eisner (auf Englisch) gelesen. Dort ging es um bi Identitäten und deren Zusammenspiel mit anderen queeren Identitäten und auch deren Bedeutung im Kontext mit Diskriminierung und politischem Aktivismus. Während ich nun das Buch von Annika Baumgart und Katharina Kroschel las, musste ich einige Male an das Buch von Shiri Eisner denken. Zwischen den Themen der beiden Bücher gibt es natürlich Überlappungen. Personen können bisexuell und aromantisch sein oder auch aromantisch mit biromantischen Überlappungen. Auch die Geschichte der Pathologisierung von queeren Identitäten und die häufig zitierten Modelle wie die Kinsey Skala werden durch die Nähe der Themen in beiden Büchern besprochen. Gleichzeitig werden aber auch Unterschiede deutlich. Während Shiri Eisner für ein internationales Publikum auf Englisch schreibt und den Israel-Palästina-Konflikt direkt vor der Haustür hat und dies so auch in die Inhalte des Buches einfließen lässt, schreiben Annika Baumgart und Katharina Kroschel für ein deutschsprachiges Publikum und zeigen Ausschnitte der Lebensrealitäten von eben auch deutschsprachigen Betroffenen, was die Inhalte unterschiedlich prägt. Und der Fokus ist natürlich ein anderer. Inhaltlich macht es eben einen Unterschied aus, ob über Asexualität und Aromantik gesprochen wird oder über bi Identitäten.

Bei der Aromantic Spectrum Awareness Week ist ein wichtiger Aspekt, dass Aromantik nicht als kleines Anhängsel von Asexualität angesehen wird. Die Darstellung der Geschichte der beiden Konzepte in dem Buch zeigt, woher dieses Phänomen kommt, dass die beiden Begriffe teilweise so verschmolzen werden und die Eigenständigkeit des Labels Aromantik bis heute in einigen Kontexten infrage gestellt wird. Da das Buch beide Label bespricht, kann natürlich die Sorge bestehen, dass auch hier wieder die Eigenständigkeit der Aromantik nicht genügend gewürdigt wird. Dieses Problem wird im Buch selbst nicht nur bei der Besprechung der Geschichte, sondern auch bei den Abschnitten zur Diskriminierung besprochen. Beim Lesen bekam ich das Gefühl, dass gerade der Kontrast zwischen den beiden Konzepten hilfreich war. So wurde ich als lesende Person immer wieder darauf gestoßen, dass es wirklich wichtig ist, die beiden Konzepte nicht in einen Topf zu werfen. Gleichzeitig kann ich auch verstehen, wenn dies für einige nicht genügt und diese sich beispielsweise Material wünschen, dass Aromantik ohne Asexualität bespricht. Genauso wie in der Aromantic Spectrum Awareness Week eben nicht auch noch Awareness für Asexualität geschaffen wird.

In diesem Punkt möchte ich auch noch einmal auf das Buch zu bi Identitäten von Shiri Eisner zurückgehen. Shiri Eisner bespricht Bisexualität, Biromantik und politische bi Identitäten in verschiedenen Abschnitten. Das verbindende Element, „bi“, steht im Titel, aber eben auch „bisexual“ im Untertitel. Beim Vergleich dieses Titels mit dem Titel, der Aromantik und Asexualität nennt, fällt auf, dass dies eine andere Wirkung hat. Ich vermag an dieser Stelle nicht darüber zu urteilen, was das bedeutet oder wie dies auch mit Diskursen zu den Labeln zusammenhängen könnte. Letztendlich kann es auch Zufall sein, wobei „(un)sichtbar gemacht“ als Titel ja doch zeigt, dass der Fokus des Buches ist, unsichtbare Identitäten sichtbar zu machen. Letztendlich kann ich nicht sagen, welche Gedanken sich an dieser Stelle gemacht wurden. Aber ich muss sagen, dass ich den Titel des Buches großartig gewählt finde. Der direkte Vergleich mit dem Buchtitel von Shiri Eisner ist auch deswegen nicht unbedingt fair, da dieses Buch aus den Jahr 2013 stammt, also ca. zehn Jahre Diskurs zu solchen Begrifflichkeiten auch noch dazwischenstehen.

Ich persönlich würde das Buch jeder Person weiterempfehlen, die Basics zur Thematik lernen möchte oder sich auch nochmal Lesehinweise für vertiefte Lektüre suchen möchte. Da auch einiges Allgemeines zu verschiedenen queeren Identitäten gesagt wird, habe ich mir schon überlegt, ob ich das Buch nicht auch einfach Bekannten empfehle, die die Basics zu queeren Identitäten noch nicht kennengelernt haben und über die Bedeutung und den Umgang mit Labeln und Diskriminierung vielleicht mal etwas lesen möchten. Damit zeigt sich, dass das Buch tatsächlich ein sehr gutes Einführungsbuch ist. Als teilweise selbst betroffene Person habe ich noch einiges Neues gelernt – und mich mal wieder selbst hinterfragt – und gleichzeitig kann ich mir gut vorstellen, wie das Buch eben auch für Personen ganz ohne Vorwissen hilfreich sein kann.

Buch:

Kroschel, Katharina & Baumgart, Annika. 2022. (un)sichtbar gemacht: Perspektiven auf Aromantik und Asexualität. Münster: Edition Assemblage.

Weitere zitierte Werke:

Eisner, Shiri. 2013. Bi: Notes for a Bisexual Revolution. New York: Seal Press.

Kinsey, Alfred/ Pomeroy, Wardell/ Martin, Clyde. 1948. “The Kinsey Scale”, in: Sexual Behavior in the Human Male. (Mehr Informationen dazu: https://kinseyinstitute.org/research/publications/kinsey-scale.php).

Queer-Lexikon (o.J.), in: https://queer-lexikon.net/.

Vorwort zum Lese-Update #Leseerfahrungen

  • CN Vereinzelte Nennung von Rassismus , weiteren -ismen , Gatekeeping und indirekte Nennung von strukturellem Ableismus

Hallo!

Ich habe mir etwas Neues überlegt, aber lasst mich kurz ausschweifen.

Buchblogger*innen und Autor*innen arbeiten hart und lang, bis die Texte, die sie präsentieren so aussehen, wie sie am Ende aussehen. Sie müssen viel recherchieren, Leute ausfragen, immer wieder Notizen machen und daraus zusammenhängende Texte basteln, weiter recherchieren, Leute finden, die Lektorat oder Sensitivity Reading oder Korrektur oder Übersetzung oder Testlesung oder alles davon übernehmen. Denn kommen noch Bilder, Cover, Zeichnungen, Textlayout, Website-Hosting, Social Media Aktivität und Bilder und Texte dort dazu. Vielleicht sucht eins dann noch nach Kontakten zu Literaturagenturen, Verlagen, anderen Buchblogger*innen oder Autor*innen…

Alles sehr viel.

Aber schreiben soll doch in erster Linie Spaß machen, oder? Über schöne Dinge berichten, die gelesen wurden und eigene kreative Welten zeigen. Auch mal darüber reden, dass etwas gelesen wurde, was so gar nicht ging und überhaupt.

Verschiedene Wege zu lesen

Muss jetzt jede Person erstmal ein ganzes Buch von 500 Seiten gelesen haben, um über die Leseerfahrung zu berichten? Auch wenn ein 500-seitiges Buch für so manche Person wie ein Jahresabenteuer erscheint, was denn doch nie geschafft wird? Ich denke nicht. Ich kenne Leute, die ihre Leseerfahrungen quasi livetweeten. D.h., dass sie während des Lesevorgangs immer mal berichten an welcher Stelle sie jetzt sind und was sie aufregt oder wholesome finden. Konzentration und Löffel, um viel am Stück lesen zu können, sind bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich verteilt. Einigen Menschen hilft es, immer wieder zu unterbrechen und durch Gespräche zu verarbeiten, was gerade gelesen wurde. Ich finde dieses Vorgehen großartig!

Ich möchte gerne darüber reden, wie wir verschiedenen Wegen des Lesens auch Sichtbarkeit schenken können. Es gibt Lesegruppen, Leute, die ihre Leseerfahrung livetweeten, Hörbücher und -spiele, Lesungen, in denen Autor*innen selbst über ihre Texte reden und ein Stück vorlesen. Es gibt viel mehr Wege, mit Texten umzugehen, als nur durch das Zeile für Zeile, Seite für Seite durchlesen eines Buches, bei dem eins am Ende eh nie ankommen wird. Ich weiß, das ist plakativ. Es gibt einige Menschen, die Bücher auf diese Weise tatsächlich durchlesen – aber selbst die eben doch nicht alle Bücher, die sie gerne durchgelesen hätten, oder? – Ja, auch wieder plakativ. Ich saß schon vor Studierenden die mit großen Augen vor wissenschaftlichen Fachbüchern saßen und gefragt haben, wie sie die jemals durchlesen sollen.

Kann es vielleicht sein, dass Menschen unterschiedlich funktionieren und daher auch unterschiedliche Wege brauchen, um Texte zu lesen?

Ich würde gerne normalisieren, dass nicht jedes Buch bis zum Schluss gelesen sein muss bevor eins darüber reden kann. Die Diskussion mit Freund*innen nach Kapitel 1 kann doch genauso dafür sorgen, dass eins plötzlich motivierter ist, auch noch Kapitel 2 und 3 zu lesen. Vielleicht fängt Nachbarin Ana nach einem Gespräch über Kapitel 2 auch noch mit dem Buch an und denn kann gemeinsam über Kapitel 3 diskutiert werden und sich für die Mitte von Kapitel 4 zum Kaffee getroffen werden.

Als Teenager kurz vorm Schulabschluss haben wir uns bei einem Ausflug mit mehreren Übernachtungen abends zu viert in einem Zimmer getroffen und eine Person hat aus einem Buch vorgelesen, die anderen haben zugehört. Manchmal ging das Buch auch reihum. Nie hätte ich sonst mitbekommen, was die Geschichte in dem Buch gewesen wäre. Am Tag haben wir uns auch manchmal über die Geschichte unterhalten und am Abend ging es mit dem Vorlesen weiter. Die Inhalte von Texten können auf so viele verschiedene Wege zum Leben erweckt werden! Fanfiction-Stories können zu Texten geschrieben werden, durch die die Inhalte verarbeitet werden und die eigene Kreativität dafür sorgt, dass auch andere Identitäten in die Geschichte Einzug nehmen oder ein unbeliebtes Ende einen netten Ersatz bekommt.

Von berühmten Leuten und in Selbst-Optimierungskursen wird häufig davon geredet „Sie sollten xy Bücher im Monat lesen“ mit xy als eine konkrete Zahl. Klingt das danach, sich mit den Denkweisen anderer Menschen intensiv auseinanderzusetzen, oder klingt es eher danach, das Brutto-Inlandsprodukt mithilfe von Zahlen zu erhöhen? Dieser Vergleich ergibt übrigens am meisten Sinn, wenn man keine Ahnung von Wirtschaft hat. Ich möchte damit ein Gefühl beschreiben und keine wirtschaftlichen Vorgänge. Mit dieser Erklärung möchte ich auch vorbeugen, dass ich demnächst zwanzig Nachrichten bekomme, in denen mir erklärt wird, was das Brutto-Inlandsprodukt ist und dass mein Vergleich nicht klappt. Mir geht es darum, dass es einige Momente im Leben gibt, die sich nicht in Zahlen messen lassen können.

So, wir haben jetzt also darüber geredet, dass es diverse Wege gibt, Texte zu lesen, richtig? Gut. Nehmen wir einen roten Faden auf, den ich weiter oben zur Seite gelegt habe.

Über Leseerfahrungen beim Bloggen über Texte schreiben

Ich halte es für sinnvoll, sich auch während des Leseprozesses über Texte auszutauschen. Für mich geht es beim Lesen um eine Erfahrung, die gemacht wird. Denn lasst uns doch auch beim Bloggen über Erfahrungen austauschen, auch wenn ein Buch vielleicht noch nicht komplett durchgelesen wurde?

Achtung, ich meine damit nicht, dass vollständige Bewertungen für ein Buch anhand dessen erstellt werden sollen, was im ersten Kapitel eines Buches geschrieben wurde. Ich rede hier weder von Rezensionen auf Amazon oder anderen Verkaufsplattformen – die sind dafür da eine komplette Ware zu bewerten und anderen bei der Entscheidung zu helfen, ob sie die Ware kaufen sollen oder nicht. Wenn ich aber nur Kapitel 1 eines Buches kenne, kann ich nichts dazu sagen, ob sich der Rest des Buches auch lohnt.

Mir geht es darum, Leseerfahrungen zu teilen. Damit meine ich, dass zum Beispiel über eine Szene gesprochen werden kann, die besonders bewegend war. Oder über die Wut gesprochen wird, die von einer anderen Szene ausgelöst wurde. Vielleicht bringt ein Abschnitt in einem Sachbuch ja auch einen Gedankenanstoß für einen kleinen Ausflug in die Ausführungen zum Leben von Eichhörnchen im eigenen Garten?

Was ich damit auch nicht sagen möchte, ist, dass Lektor*innen, Sensitivity Reader, Verlage oder Testlesende nicht gebraucht werden. Wenn Texte veröffentlicht werden, tragen die Schreiber*innen auch eine Verantwortung. Blogartikel lassen sich natürlich etwas einfacher überarbeiten als gedruckte Bücher, die direkt mit einer Auflage von ein paar tausend Exemplaren verkauft werden, aber trotzdem muss sorgfältig bedacht werden, was geschrieben wird. Wir schreiben nicht in einem luftleeren Raum. Was wir schreiben hat einen Einfluss auf diejenigen, die unsere Texte lesen. Dieser Einfluss kann positiv sowie negativ sein. Aus meiner Sicht sollte aber der öffentliche Diskurs über Texte oder überhaupt das Erzählen von Geschichten nicht nur von denen geprägt werden, die diesen langen Weg des Lesens und Schreibens wie im ersten Absatz beschrieben, meistern. Sollten nur Texte über Bücher erlaubt sein, die über das gesamte Buch anstelle eines Abschnitts reden, denn wird es einige Stimmen geben, die nie gehört werden, weil sie das Buch einfach nie beendet bekommen haben. Genauso sollten auch Geschichten erzählt werden können, die eben nicht perfekten Anfang, perfektes Ende und perfekten Mittelteil haben, sondern eher ein kurzer Abschnitt sind, weil die schreibende Person sich vielleicht nicht mehr konzentrieren konnte.

Was letztendlich gelesen wird, das entscheiden Leser*innen selbst. Das ist klar. Ich möchte hier nur ein paar Ideen besprechen und darauf aufmerksam machen, was für Möglichkeiten ich sehe.

Über Erfahrungen reden: Vom Lernen von Sprachen und Lesen von Texten

Das meiste, was ich beschrieben habe, wird für die meisten hier nicht neu sein. Hörbücher gibt es nicht erst seit gestern und auch Lesegruppen sind keine Neuerfindung. Dieser Text soll auch kein „die ultimativen neuesten und besten Tipps zum Lesen“ sein. Mir geht es eher um Sichtbarkeit und darum zu besprechen, wie ich zu Texten und dem Lesen stehe. Von Freund*innen kenne ich Blogartikel zum Thema Sprachenlernen, in denen sie beschreiben, welche Sprache sie gerade lernen und welche Methoden sie dafür verwenden, wie ihr aktueller Stand gerade ist und was für Erfahrungen sie durch die Nutzung der Sprache machen konnten. In den Blogartikeln geht es darum, über eine Erfahrung mit einer Sprache zu sprechen und sich gegenseitig dazu zu motivieren am Ball zu bleiben oder den Ball wieder aufzunehmen, sollte er für eine Zeit zur Seite gelegt worden sein. Ich finde diesen Weg sehr schön! Außer natürlich, wenn es darin endet, dass wieder nur das bereits erwähnte Bruttoinlandsprodukt erhöht werden soll und ganz nebenbei Rassismus unreflektiert bedient wird.

Was ich eigentlich sagen möchte: Ich bin fasziniert von dem Gedanken, über Leseerfahrungen zu berichten und sich darüber auszutauschen, und aus dem Lesen eben kein To Do machen, das in Zahlen gemessen wird. Gleichzeitig sollten gewisse Überarbeitungen von Texten geschehen, damit die Chance singt, unreflektierte -ismen wiederzugeben. Sollte es dennoch zu Feedback kommen, das -istische Themen oder Ausdrücke anspricht, sollte dieses Feedback ernstgenommen und der Text überarbeitet werden.

Die Idee für Lese-Updates

Um jetzt zum ersten Satz dieses Texts zurückzukommen, in dem ich sagte, dass ich erstmal ausschweifen werde: Ich möchte in weiteren Blogartikeln über meine Leseerfahrungen berichten. Rezensionen zu Büchern, die quasi Kaufempfehlungen gleichen und ein vollständiges Werk besprechen, gibt es für viele Texte. Diese Art von Text halte ich auch für wichtig und ich werde sie auch weiterhin immer mal wieder benutzen, aber eben nicht nur. Auf die Idee bin ich dadurch gekommen, dass ich diese Woche zwei großartige Bücher begonnen habe zu lesen und bei mindestens einem davon aber gemerkt habe, dass meine Konzentration es nicht mitmachen wird, dass ich es schnell durchgelesen bekomme. Gleichzeitig habe ich im Moment aber auch keine Möglichkeit, Hörbücher zu diesen Büchern zu kaufen. Aus anderen Bereichen meines Lebens muss ich schon genügend andere Texte und Bücher im Stillen Kämmerlein ohne viel Kommunikation darüber lesen. Dort gibt es weder Hörfassungen noch viele Leute, die wirklich über die Texte reden wollen würden, außer sie können das Bruttoinlandsprodukt damit erhöhen – ja, ich hör bald mit dem Spruch auf. Deshalb würde ich gerne meinen Umgang mit diesen Büchern – die, über die ich mit euch hier sprechen möchte, anders gestalten.

Buchblogger*innen und Autor*innen

So, alle Fäden wurden wieder aufgegriffen und zu einem Ende zusammengeknotet. Jetzt fehlt aber noch eins. Es wird aufgefallen sein, dass ich im ersten längeren Absatz die Tätigkeiten von Buchblogger*innen und Autor*innen zusammengeworfen habe. In der Realität sind nicht alle Buchblogger*innen Autor*innen und andersrum. Im restlichen Teil dieses Artikels habe ich mich auf „das Schreiben und Austauschen über das Gelesene“ konzentriert. Das umfasst tendenziell eher das, was Buchblogger*innen machen, als das, was Autor*innen machen, obwohl letztere natürlich auch Texte lesen und darüber reden können. Besonders bei Fanfiction muss der Originaltext natürlich zumindest ein Stück weit gekannt werden und für Sachtexte, aber auch kreative Texte, wird Recherche betrieben. Wie zu sehen ist – die Aktivitäten sind miteinander verwoben. Es gibt aber auch Bereiche, die typisch für Autor*innen sind, die ich jetzt in einem weiteren Abschnitt thematisieren möchte.

Die meisten Autor*innen, die ich kenne, wachsen mit ihren Texten. D.h. sie sind nicht eines Tages aufgewacht und haben den perfekten 500-seitigen Text geschrieben, der direkt über ein großes Verlagshaus veröffentlich wurde und stilistisch einwandfrei und ohne inhaltliche Probleme war. So große Texte an solchen Orten veröffentlicht zu haben ist auch von den wenigsten Autor*innen, die ich persönlich kenne, das Ziel. Wenn wir auch kürzere Texte und Vorversionen bereits für ein Publikum zu lesen geben, könnte es sein, dass wir durch Unterhaltungen über Inhalte viel eher dazu motiviert werden, weiterzumachen oder wichtiges Feedback bekommen, das dazu führt, dass bestimmte Fehler überarbeitet und danach vermeidet werden können. Ich kenne Leser*innen, die keine zwanzigseitige Geschichte am Stück lesen können und ich kenne Schreiber*innen, denen das Schreiben einer zwanzigseitigen Geschichte zu lang wär. Kurzgeschichten und Kürzestgeschichten gibt es auch nicht erst seit gestern und ich liebe es, dass dies so ist. Mir geht es auch darum zu sagen „ein Text muss nicht perfekt sein, bevor er Leuten zum Lesen gegeben werden kann oder über die Geschichte gesprochen werden kann“. Gleichzeitig möchte ich aber auch wieder mit erhobenem Zeigefinger sagen, dass Autor*innen von Texten weiterhin eine Verantwortung tragen, nicht alles unreflektiert zu vervielfältigen und auf sinnvolles Feedback auch zu reagieren.

Ihr seht – ich bin kein Fan von Gatekeeping, habe aber auch im Hinterkopf, dass eine Menge unreflektierter menschenverachtender Mist in die Welt geblasen wird, die lieber nie geschrieben oder gesagt worden wäre. Wobei das auch bei Texten passieren kann, die durch Redaktionen und Lektorate gingen und jahrelang überarbeitet worden sind. Ich denke, dass in dieser Thematik das wichtigste ist, dass Schreiber*innen sich regelmäßig weiterbilden und mit anderen Leuten im Gespräch bleiben, also gerade mit denen, deren Lebensrealitäten damit zu tun haben, worüber es in den eigenen Texten auch gehen soll. Dass ich ein Fan von Sensitivity Readings bin, ist an dieser Stelle wohl kein Geheimnis mehr.

Die Fäden sind jetzt alle dort, wo sie liegen sollten – und das Bruttoinlandsprodukt ist dabei um keinen Millimeter gestiegen.

Eine wichtige Stimme, die gehört werden muss: Jasmina Kuhnke – „Schwarzes Herz“

CN: Trauma Gewalt Rassismus Misogynie Klassismus

Eine wichtige Stimme, die gehört werden muss. In dem Buch „Schwarzes Herz“ geht es um die Folgen von Rassismus und Misogynie. Es geht darum, wie körperliche und psychische Gewalt das Leben der Schwarzen Ich-Erzählerin begleitet. Es geht um ihre Kindheit, ihre Jugend und die die ersten Jahre nach der Geburt der zwei Kinder, die aus einer gewaltvollen Partnerschaft stammen. 

Im Buch wird häufig zwischen den Lebensabschnitten der Erzählerin gesprungen, von Erlebnissen der Kindheit, wo ihr Stiefvater rassistische Sprache verwendet, um über sie zu sprechen, zu Erlebnissen des Erwachsenenlebens, wo sie den späteren Vater der beiden Kinder, die im Buch vorkommen, kennenlernt, dessen Gewalt ihr gegenüber in weiteren Abschnitten geschildert wird. 

In vielen Geschichten machen mich zu viele Zeitsprünge nervös. Ich komm nicht mehr hinterher, was passiert, wo wir uns in der Geschichte befinden, und möchte die Geschehnisse lieber in der chronologischen Reihenfolge hören. Nach meiner Erfahrung, die nicht mit der Geschichte der Erzählerin vergleichbar ist, funktionieren Erinnerungen, besonders die an extrem negative Erfahrungen, wie psychischen Terror und körperliche Gewalt, so nicht. 

Eins bewegt sich selten chronologisch durch die traumatischen Erinnerungen, die traumatischen Bilder kommen und gehen. Den Erinnerungen ist es egal, dass es Zeitsprünge von Jahrzehnten gibt. Ich weiß nicht, was sich die Autorin dabei gedacht hat, den Text so anzuordnen. Was ich weiß, ist aber, dass mich die Anordnung des Textes daran erinnert hat, wie traumatische Bilder bei mir selbst kommen und gehen. Daher finde ich die Anordnung der Szenen sehr passend gewählt. Zeitsprünge sorgen beim Lesen eines neuen Abschnittes bei mir als lesende Person häufiger für Orientierungslosigkeit. Das Erleben von traumatischen Erfahrungen tut dies auch. Trotz allem wurde dieses Stilmittel so bewusst gewählt, dass die Erzählerin mich im Lesefluss nicht abgehängt hat. Ich konnte ihr folgen. 

Es handelt sich bei der Stimme der Erzählerin um eine wichtige Stimme, da sie ausspricht, was wohl viele, die mit Rassismus und Frauenfeindlichkeit konfrontiert werden, denken. Das Buch gibt denen, die nicht laut werden können, eine Stimme. Das Buch gibt denen, die ähnliche Gedanken und Erfahrungen haben das Gefühl, nicht die einzigen zu sein, denen es so geht. Das Buch zeigt auch, dass es nicht die Überlebenden von Gewalt sind, die an dem, was sie erlebt haben, schuld sind, sondern diejenigen, die die Gewalt ausüben. 

Der gesellschaftliche Kontext des Buches spielt auch eine wichtige Rolle. Während Jasmina Kuhnke noch an dem Buch schrieb, musste sie mit ihrer Familie umziehen, weil es Morddrohungen von Rechtsradikalen gegen sie gab und ihre Adresse öffentlich gemacht wurde. Aus Sicherheitsgründen kann die Autorin ihr Buch nicht bei Lesungen auf einer Buchtour promoten. Auch ein unangekündigter Überraschungsauftritt bei der Frankfurter Buchmesse musste von ihr abgesagt werden, weil die Organisator*innen der Buchmesse es nicht einsahen, die Sicherheit von Jasmina Kuhnke und anderen Autor*innen of Color zu gewährleisten und lieber rechtsradikalen Buchverlagen Platz für ihre Stände zu geben, dessen Angehörigen zum Teil auch mit Drohungen gegen die Autorin zusammenhängen. 

Der Inhalt des Buches zeigt, was passiert, wenn eins still bleibt. Der gesellschaftliche Kontext zur Veröffentlichung des Buches zeigt, was passiert, wenn eins sich engagiert, sich äußert und Betroffenen eine Stimme gibt. 

Die Sprache des Buches zeigt, dass sich die Autorin nicht verstellt, nur weil Kritiker*innen eine ganz bestimmte Sprache erwarten, in der fuck nicht vorkäme, rassistische Ausdrücke aber unkommentiert ausgeschrieben werden können. Rassistische Begriffe, die durch Zitate auftauchen, wurden mit Sternen zensiert. In dem Buch wurde entgendert, wenn es um die anonyme Masse von z.B. Mitschüler*innen und Lehrenden ging und es wurde ein Sensitivity Reading durchgeführt, was es bei vielen anderen Publikationen so sonst häufig noch nicht gibt. Es gibt auch Hinweise am Buchanfang und Buchende, die die Lesenden darauf aufmerksam machen sollen, dass der Inhalt retraumatisierend wirken kann und es gibt eine Aufzählung von Themen, die vorkommen, so dass sich Lesende überlegen können, ob sie das Buch tatsächlich lesen wollen, auch wenn z.B. rassistische Sprache und Gewaltdarstellungen vorkommen. Es wird also deutlich, es wurden sich Gedanken gemacht. Es wurden sich Gedanken gemacht, wie verschiedene marginalisierte Gruppen auf den Text reagieren würden und es wurde nicht die Sprache der Mehrheitsgesellschaft und des Patriarchats übernommen. 

Aus meiner Sicht ist dieses Buch eines der wichtigsten Bücher, die ich bisher gelesen habe. Es zeigt, was das Leben in unserer Gesellschaft für diejenigen bereithält, die nicht so privilegiert aufwachsen und regelmäßig mit Rassismus und Misogynie konfrontiert werden. Es zeigt, was an der Oberfläche unserer Gesellschaft beinahe komplett unsichtbar gemacht wird und trotzdem da ist und das Leben vieler Menschen prägt. Das Buch gibt aber auch Hoffnung und für diese Hoffnung möchte ich Jasmina Kuhnke danken.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass diese Rezension von einer weißen Person geschrieben wurde. Bei den Darstellungen der Bezeichnungen weißer und Schwarzer Personen und BIPoCs habe ich mich an den Bezeichnungen orientiert, die Alice Hasters in ihrem Buch „Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ verwendet und erläutert hat. Ich würde allen Lesenden dieser Rezension sehr ans Herz legen, sich noch viel öfter die Stimmen von Schwarzen Frauen und anderen FLINTA* BIPoC anzuhören und den Fokus darauf zu legen, was diese über Rassismus und Misogynie und über Bücher wie „Schwarzes Herz“ zu sagen haben. Ganz zum Schluss denn noch das Fazit: Wenn ihr die Themen, die in den Inhaltshinweisen vorkommen, verkraften könnt, dann lest unbedingt das Buch!


Für diese Rezension hat Jade S. Kye ein Sensitivity Reading in Bezug auf Rassismus-sensibler Sprache durchgeführt. Für das Feedback möchte ich sehr danken!

Das Buch:

Jasmina Kuhnke (2021): Schwarzes Herz. Hamburg: Rowohlt.