Vorwort zum Lese-Update #Leseerfahrungen

  • CN Vereinzelte Nennung von Rassismus , weiteren -ismen , Gatekeeping und indirekte Nennung von strukturellem Ableismus

Hallo!

Ich habe mir etwas Neues überlegt, aber lasst mich kurz ausschweifen.

Buchblogger*innen und Autor*innen arbeiten hart und lang, bis die Texte, die sie präsentieren so aussehen, wie sie am Ende aussehen. Sie müssen viel recherchieren, Leute ausfragen, immer wieder Notizen machen und daraus zusammenhängende Texte basteln, weiter recherchieren, Leute finden, die Lektorat oder Sensitivity Reading oder Korrektur oder Übersetzung oder Testlesung oder alles davon übernehmen. Denn kommen noch Bilder, Cover, Zeichnungen, Textlayout, Website-Hosting, Social Media Aktivität und Bilder und Texte dort dazu. Vielleicht sucht eins dann noch nach Kontakten zu Literaturagenturen, Verlagen, anderen Buchblogger*innen oder Autor*innen…

Alles sehr viel.

Aber schreiben soll doch in erster Linie Spaß machen, oder? Über schöne Dinge berichten, die gelesen wurden und eigene kreative Welten zeigen. Auch mal darüber reden, dass etwas gelesen wurde, was so gar nicht ging und überhaupt.

Verschiedene Wege zu lesen

Muss jetzt jede Person erstmal ein ganzes Buch von 500 Seiten gelesen haben, um über die Leseerfahrung zu berichten? Auch wenn ein 500-seitiges Buch für so manche Person wie ein Jahresabenteuer erscheint, was denn doch nie geschafft wird? Ich denke nicht. Ich kenne Leute, die ihre Leseerfahrungen quasi livetweeten. D.h., dass sie während des Lesevorgangs immer mal berichten an welcher Stelle sie jetzt sind und was sie aufregt oder wholesome finden. Konzentration und Löffel, um viel am Stück lesen zu können, sind bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich verteilt. Einigen Menschen hilft es, immer wieder zu unterbrechen und durch Gespräche zu verarbeiten, was gerade gelesen wurde. Ich finde dieses Vorgehen großartig!

Ich möchte gerne darüber reden, wie wir verschiedenen Wegen des Lesens auch Sichtbarkeit schenken können. Es gibt Lesegruppen, Leute, die ihre Leseerfahrung livetweeten, Hörbücher und -spiele, Lesungen, in denen Autor*innen selbst über ihre Texte reden und ein Stück vorlesen. Es gibt viel mehr Wege, mit Texten umzugehen, als nur durch das Zeile für Zeile, Seite für Seite durchlesen eines Buches, bei dem eins am Ende eh nie ankommen wird. Ich weiß, das ist plakativ. Es gibt einige Menschen, die Bücher auf diese Weise tatsächlich durchlesen – aber selbst die eben doch nicht alle Bücher, die sie gerne durchgelesen hätten, oder? – Ja, auch wieder plakativ. Ich saß schon vor Studierenden die mit großen Augen vor wissenschaftlichen Fachbüchern saßen und gefragt haben, wie sie die jemals durchlesen sollen.

Kann es vielleicht sein, dass Menschen unterschiedlich funktionieren und daher auch unterschiedliche Wege brauchen, um Texte zu lesen?

Ich würde gerne normalisieren, dass nicht jedes Buch bis zum Schluss gelesen sein muss bevor eins darüber reden kann. Die Diskussion mit Freund*innen nach Kapitel 1 kann doch genauso dafür sorgen, dass eins plötzlich motivierter ist, auch noch Kapitel 2 und 3 zu lesen. Vielleicht fängt Nachbarin Ana nach einem Gespräch über Kapitel 2 auch noch mit dem Buch an und denn kann gemeinsam über Kapitel 3 diskutiert werden und sich für die Mitte von Kapitel 4 zum Kaffee getroffen werden.

Als Teenager kurz vorm Schulabschluss haben wir uns bei einem Ausflug mit mehreren Übernachtungen abends zu viert in einem Zimmer getroffen und eine Person hat aus einem Buch vorgelesen, die anderen haben zugehört. Manchmal ging das Buch auch reihum. Nie hätte ich sonst mitbekommen, was die Geschichte in dem Buch gewesen wäre. Am Tag haben wir uns auch manchmal über die Geschichte unterhalten und am Abend ging es mit dem Vorlesen weiter. Die Inhalte von Texten können auf so viele verschiedene Wege zum Leben erweckt werden! Fanfiction-Stories können zu Texten geschrieben werden, durch die die Inhalte verarbeitet werden und die eigene Kreativität dafür sorgt, dass auch andere Identitäten in die Geschichte Einzug nehmen oder ein unbeliebtes Ende einen netten Ersatz bekommt.

Von berühmten Leuten und in Selbst-Optimierungskursen wird häufig davon geredet „Sie sollten xy Bücher im Monat lesen“ mit xy als eine konkrete Zahl. Klingt das danach, sich mit den Denkweisen anderer Menschen intensiv auseinanderzusetzen, oder klingt es eher danach, das Brutto-Inlandsprodukt mithilfe von Zahlen zu erhöhen? Dieser Vergleich ergibt übrigens am meisten Sinn, wenn man keine Ahnung von Wirtschaft hat. Ich möchte damit ein Gefühl beschreiben und keine wirtschaftlichen Vorgänge. Mit dieser Erklärung möchte ich auch vorbeugen, dass ich demnächst zwanzig Nachrichten bekomme, in denen mir erklärt wird, was das Brutto-Inlandsprodukt ist und dass mein Vergleich nicht klappt. Mir geht es darum, dass es einige Momente im Leben gibt, die sich nicht in Zahlen messen lassen können.

So, wir haben jetzt also darüber geredet, dass es diverse Wege gibt, Texte zu lesen, richtig? Gut. Nehmen wir einen roten Faden auf, den ich weiter oben zur Seite gelegt habe.

Über Leseerfahrungen beim Bloggen über Texte schreiben

Ich halte es für sinnvoll, sich auch während des Leseprozesses über Texte auszutauschen. Für mich geht es beim Lesen um eine Erfahrung, die gemacht wird. Denn lasst uns doch auch beim Bloggen über Erfahrungen austauschen, auch wenn ein Buch vielleicht noch nicht komplett durchgelesen wurde?

Achtung, ich meine damit nicht, dass vollständige Bewertungen für ein Buch anhand dessen erstellt werden sollen, was im ersten Kapitel eines Buches geschrieben wurde. Ich rede hier weder von Rezensionen auf Amazon oder anderen Verkaufsplattformen – die sind dafür da eine komplette Ware zu bewerten und anderen bei der Entscheidung zu helfen, ob sie die Ware kaufen sollen oder nicht. Wenn ich aber nur Kapitel 1 eines Buches kenne, kann ich nichts dazu sagen, ob sich der Rest des Buches auch lohnt.

Mir geht es darum, Leseerfahrungen zu teilen. Damit meine ich, dass zum Beispiel über eine Szene gesprochen werden kann, die besonders bewegend war. Oder über die Wut gesprochen wird, die von einer anderen Szene ausgelöst wurde. Vielleicht bringt ein Abschnitt in einem Sachbuch ja auch einen Gedankenanstoß für einen kleinen Ausflug in die Ausführungen zum Leben von Eichhörnchen im eigenen Garten?

Was ich damit auch nicht sagen möchte, ist, dass Lektor*innen, Sensitivity Reader, Verlage oder Testlesende nicht gebraucht werden. Wenn Texte veröffentlicht werden, tragen die Schreiber*innen auch eine Verantwortung. Blogartikel lassen sich natürlich etwas einfacher überarbeiten als gedruckte Bücher, die direkt mit einer Auflage von ein paar tausend Exemplaren verkauft werden, aber trotzdem muss sorgfältig bedacht werden, was geschrieben wird. Wir schreiben nicht in einem luftleeren Raum. Was wir schreiben hat einen Einfluss auf diejenigen, die unsere Texte lesen. Dieser Einfluss kann positiv sowie negativ sein. Aus meiner Sicht sollte aber der öffentliche Diskurs über Texte oder überhaupt das Erzählen von Geschichten nicht nur von denen geprägt werden, die diesen langen Weg des Lesens und Schreibens wie im ersten Absatz beschrieben, meistern. Sollten nur Texte über Bücher erlaubt sein, die über das gesamte Buch anstelle eines Abschnitts reden, denn wird es einige Stimmen geben, die nie gehört werden, weil sie das Buch einfach nie beendet bekommen haben. Genauso sollten auch Geschichten erzählt werden können, die eben nicht perfekten Anfang, perfektes Ende und perfekten Mittelteil haben, sondern eher ein kurzer Abschnitt sind, weil die schreibende Person sich vielleicht nicht mehr konzentrieren konnte.

Was letztendlich gelesen wird, das entscheiden Leser*innen selbst. Das ist klar. Ich möchte hier nur ein paar Ideen besprechen und darauf aufmerksam machen, was für Möglichkeiten ich sehe.

Über Erfahrungen reden: Vom Lernen von Sprachen und Lesen von Texten

Das meiste, was ich beschrieben habe, wird für die meisten hier nicht neu sein. Hörbücher gibt es nicht erst seit gestern und auch Lesegruppen sind keine Neuerfindung. Dieser Text soll auch kein „die ultimativen neuesten und besten Tipps zum Lesen“ sein. Mir geht es eher um Sichtbarkeit und darum zu besprechen, wie ich zu Texten und dem Lesen stehe. Von Freund*innen kenne ich Blogartikel zum Thema Sprachenlernen, in denen sie beschreiben, welche Sprache sie gerade lernen und welche Methoden sie dafür verwenden, wie ihr aktueller Stand gerade ist und was für Erfahrungen sie durch die Nutzung der Sprache machen konnten. In den Blogartikeln geht es darum, über eine Erfahrung mit einer Sprache zu sprechen und sich gegenseitig dazu zu motivieren am Ball zu bleiben oder den Ball wieder aufzunehmen, sollte er für eine Zeit zur Seite gelegt worden sein. Ich finde diesen Weg sehr schön! Außer natürlich, wenn es darin endet, dass wieder nur das bereits erwähnte Bruttoinlandsprodukt erhöht werden soll und ganz nebenbei Rassismus unreflektiert bedient wird.

Was ich eigentlich sagen möchte: Ich bin fasziniert von dem Gedanken, über Leseerfahrungen zu berichten und sich darüber auszutauschen, und aus dem Lesen eben kein To Do machen, das in Zahlen gemessen wird. Gleichzeitig sollten gewisse Überarbeitungen von Texten geschehen, damit die Chance singt, unreflektierte -ismen wiederzugeben. Sollte es dennoch zu Feedback kommen, das -istische Themen oder Ausdrücke anspricht, sollte dieses Feedback ernstgenommen und der Text überarbeitet werden.

Die Idee für Lese-Updates

Um jetzt zum ersten Satz dieses Texts zurückzukommen, in dem ich sagte, dass ich erstmal ausschweifen werde: Ich möchte in weiteren Blogartikeln über meine Leseerfahrungen berichten. Rezensionen zu Büchern, die quasi Kaufempfehlungen gleichen und ein vollständiges Werk besprechen, gibt es für viele Texte. Diese Art von Text halte ich auch für wichtig und ich werde sie auch weiterhin immer mal wieder benutzen, aber eben nicht nur. Auf die Idee bin ich dadurch gekommen, dass ich diese Woche zwei großartige Bücher begonnen habe zu lesen und bei mindestens einem davon aber gemerkt habe, dass meine Konzentration es nicht mitmachen wird, dass ich es schnell durchgelesen bekomme. Gleichzeitig habe ich im Moment aber auch keine Möglichkeit, Hörbücher zu diesen Büchern zu kaufen. Aus anderen Bereichen meines Lebens muss ich schon genügend andere Texte und Bücher im Stillen Kämmerlein ohne viel Kommunikation darüber lesen. Dort gibt es weder Hörfassungen noch viele Leute, die wirklich über die Texte reden wollen würden, außer sie können das Bruttoinlandsprodukt damit erhöhen – ja, ich hör bald mit dem Spruch auf. Deshalb würde ich gerne meinen Umgang mit diesen Büchern – die, über die ich mit euch hier sprechen möchte, anders gestalten.

Buchblogger*innen und Autor*innen

So, alle Fäden wurden wieder aufgegriffen und zu einem Ende zusammengeknotet. Jetzt fehlt aber noch eins. Es wird aufgefallen sein, dass ich im ersten längeren Absatz die Tätigkeiten von Buchblogger*innen und Autor*innen zusammengeworfen habe. In der Realität sind nicht alle Buchblogger*innen Autor*innen und andersrum. Im restlichen Teil dieses Artikels habe ich mich auf „das Schreiben und Austauschen über das Gelesene“ konzentriert. Das umfasst tendenziell eher das, was Buchblogger*innen machen, als das, was Autor*innen machen, obwohl letztere natürlich auch Texte lesen und darüber reden können. Besonders bei Fanfiction muss der Originaltext natürlich zumindest ein Stück weit gekannt werden und für Sachtexte, aber auch kreative Texte, wird Recherche betrieben. Wie zu sehen ist – die Aktivitäten sind miteinander verwoben. Es gibt aber auch Bereiche, die typisch für Autor*innen sind, die ich jetzt in einem weiteren Abschnitt thematisieren möchte.

Die meisten Autor*innen, die ich kenne, wachsen mit ihren Texten. D.h. sie sind nicht eines Tages aufgewacht und haben den perfekten 500-seitigen Text geschrieben, der direkt über ein großes Verlagshaus veröffentlich wurde und stilistisch einwandfrei und ohne inhaltliche Probleme war. So große Texte an solchen Orten veröffentlicht zu haben ist auch von den wenigsten Autor*innen, die ich persönlich kenne, das Ziel. Wenn wir auch kürzere Texte und Vorversionen bereits für ein Publikum zu lesen geben, könnte es sein, dass wir durch Unterhaltungen über Inhalte viel eher dazu motiviert werden, weiterzumachen oder wichtiges Feedback bekommen, das dazu führt, dass bestimmte Fehler überarbeitet und danach vermeidet werden können. Ich kenne Leser*innen, die keine zwanzigseitige Geschichte am Stück lesen können und ich kenne Schreiber*innen, denen das Schreiben einer zwanzigseitigen Geschichte zu lang wär. Kurzgeschichten und Kürzestgeschichten gibt es auch nicht erst seit gestern und ich liebe es, dass dies so ist. Mir geht es auch darum zu sagen „ein Text muss nicht perfekt sein, bevor er Leuten zum Lesen gegeben werden kann oder über die Geschichte gesprochen werden kann“. Gleichzeitig möchte ich aber auch wieder mit erhobenem Zeigefinger sagen, dass Autor*innen von Texten weiterhin eine Verantwortung tragen, nicht alles unreflektiert zu vervielfältigen und auf sinnvolles Feedback auch zu reagieren.

Ihr seht – ich bin kein Fan von Gatekeeping, habe aber auch im Hinterkopf, dass eine Menge unreflektierter menschenverachtender Mist in die Welt geblasen wird, die lieber nie geschrieben oder gesagt worden wäre. Wobei das auch bei Texten passieren kann, die durch Redaktionen und Lektorate gingen und jahrelang überarbeitet worden sind. Ich denke, dass in dieser Thematik das wichtigste ist, dass Schreiber*innen sich regelmäßig weiterbilden und mit anderen Leuten im Gespräch bleiben, also gerade mit denen, deren Lebensrealitäten damit zu tun haben, worüber es in den eigenen Texten auch gehen soll. Dass ich ein Fan von Sensitivity Readings bin, ist an dieser Stelle wohl kein Geheimnis mehr.

Die Fäden sind jetzt alle dort, wo sie liegen sollten – und das Bruttoinlandsprodukt ist dabei um keinen Millimeter gestiegen.